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Von medienethischen Spannungsfeldern

Der mutmaßliche Co-Pilot des Germanwings-Fluges wird von manchen Publikationen mit vollem Namen genannt. Medienethisch bedenklich oder Ausfluss der Pressefreiheit?

Eines vorweg: Dieser Text soll nur eine Randnotiz sein. Er wird sich nicht anmaßen, einer der Wichtigeren über die Germanwings-Katastrophe zu sein, noch will er eine kohärente Gesamtbetrachtung über ihre Berichterstattung und publizistische Aufarbeitung in den deutschen Medien liefern.

Stattdessen soll an dieser Stelle ein kleiner, aber durchaus interessanter Nebenaspekt herausgestellt werden, der eine grundlegend unterschiedliche Auffassung zwischen deutschen und (anglo-)amerikanischen Medien illustriert: die Sache mit den Klarnamen relativer Personen der Zeitgeschichte und ihren Photos.

Seit die französischen Behörden den Namen des Mannes herausgegeben haben, der die Maschine (mutmaßlich) mit voller Absicht in den Tod flog, sind deutsche Redakteure in einem Dilemma, das ihre amerikanischen Kollegen nicht kennen: Dürfen/sollen/können sie seinen vollen Namen nennen oder müssen/sollen sie sich mit „Andreas L.“ behelfen?

Nach US-Recht ist die Sache klar: Als Person von öffentlichem Interesse darf selbstverständlich sein voller Name veröffentlicht werden. In Deutschland ist die Sache heikler und unterliegt im Zweifel einer Einzelfallentscheidung im Spannungsfeld zwischen öffentlichem Interesse und seinem (postmortalen) Persönlichkeitsrecht. Zwar kann man in diesem Fall sehr gut argumentieren, dass das öffentliche Interesse an seinem vollen Namen aufgrund der Unfassbarkeit der Umstände, die zu seiner Bekanntheit geführt haben, klar überwiege. Doch das Gegenargument, das auf das Persönlichkeitsrecht abstellt, wird wohl kaum als völlig unvertretbar eingestuft werden.

Ein kurzer Blick auf Google News lässt unterschiedliche Herangehensweisen erkennen: „Zeit Online“, „Augsburger Allgemeine“, „Stern“, „Focus Online“ und „Münchner Abendzeitung“ nennen den vollen Namen, „Welt“, „FAZ“ und „Spiegel Online“ begnügen sich mit „Andreas L.“

Nun kann man lange darüber diskutieren, ob die Nennung des vollen Namens gerechtfertigt, zulässig, vertretbar oder angemessen ist. Zahlreiche Leser von „Zeit Online“ fordern in den Kommentarspalten mit mal mehr, mal weniger sinnigen Argumenten die Redaktion dazu auf, die Nennung des vollen Namens zu unterlassen. Und obwohl der Verfasser dieser Zeilen geneigt ist, in diesem Fall die Zulässigkeit und Vertretbarkeit zu bejahen, so ist dies nicht als unumstößliche Position, sondern als Einladung zu Diskussion, Kritik und Widerspruch zu verstehen.

Allein: Diese Diskussion dürfte sich ohnehin als für die Praxis ziemlich nutzlos erweisen. Dank des amerikanischen Presserechts, das eine Nennung des vollen Namens juristisch vollkommen unproblematisch macht, und dem grundsätzlich anderen Verständnis von Presse und Öffentlichkeit in der amerikanischen Gesellschaft, die zumindest in der Breite die Bedenken verneint, die in Deutschland diesbezüglich gerne vorgetragen werden.

Denn selbst wenn alle deutschen Medien ausnahmslos nur von „Andreas L.“ schrieben. Wäre ein deutscher Leser daran interessiert, den vollen Namen herauszubekommen, hätte er ihn in Sekunden: Es würde ausreichen, ein paar einschlägige englische Begriffe durch Google zu jagen und auf das erstbeste Ergebnis zu klicken, das die Suchmaschine ausspuckte: Es würde zu „CNN.com“, der „New York Times“, „USA Today“ oder einem ähnlichen News Outlet führen, wo mit höchster Wahrscheinlichkeit der volle Name stünde. Weil das in den USA ohne Frage juristisch zulässig und vom Gros der Publizisten und Rezipienten für vertretbar und adäquat gehalten wird.

„Andreas L.“ ist freilich nicht der erste Fall, an dem sich das feststellen lässt. Wer wissen will, wie „Marco W.“ mit vollen Namen heißt, kann ihn mit ähnlich einfachen Mitteln feststellen. Ebenso die Mörder von Walter Sedlmayr, die juristisch gegen die Nennung ihrer Namen auf europäischen Internetseiten vorgingen, in US-Online-Publikationen aber weiterhin mit vollem Namen erwähnt werden.

Analoges gilt für die gestern aufgetauchten Privatphotos von „Andreas L.“ Mit wenigen Ausnahmen wie „Bild.de“ und „Blick.ch“ wurde von deutschsprachigen Publikationen brav das Gesicht unkenntlich gemacht, während „The Guardian“ und „CNN.com“ nonchalant eine unverpixelte Version veröffentlichten. Auch das ist aus angelsächsischer Sicht unproblematisch: Über „public figures“ darf so berichtet werden. In Deutschland wird wieder eine Abwägung zwischen öffentlichem Interesse und Persönlichkeitsrechten vorgenommen, die bei „Bild.de“ und „Abendzeitung München“ eben unterschiedlich ausfiel. Ob aus juristischen, ethischen oder publizistischen Gründen sei dahingestellt.

Vor über einem Jahrzehnt hätte diese Beobachtung einer großen Diskrepanz zwischen deutschen und (primär) amerikanischen Medien bei dieser Form der Berichterstattung noch wenig Bezug zur Praxis gehabt: Damals musste man sich ausländische Publikationen noch mühevoll und kostspielig an Bahnhofsbuchhandlungen zusammensuchen. Heute ist der Zugang zu US-Medien freilich um Welten einfacher und damit alltäglicher – eine triviale Feststellung, aber eine wichtige. Vor allem, wenn amerikanische Publikationen vieles dürfen, was in Deutschland nicht nur keine allzu breite Akzeptanz findet, sondern teilweise gegen geltendes deutsches Recht verstoßen würde, würde es von einem deutschen Medium veröffentlicht werden. Zugespitzt könnte man fragen: Hebelt da gerade das liberalere angelsächsische Presserecht das restriktivere deutsche aus, ohne dass man hierzulande irgendetwas dagegen tun könnte? Zumindest wenn man die aktuellen Bestimmungen auch in der Praxis vollumfänglich umgesetzt wissen möchte?
27.03.2015 12:30 Uhr Kurz-URL: qmde.de/77199
Julian Miller

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