Fragil, aber beeindruckend: Mit «Marvel's Agents of S.H.I.E.L.D.» und den Kinofilmen der «Avengers»-Saga führt Marvel vor, was in Sachen crossmedialem Storytelling möglich ist.
Vom Film zur Serie zum Comic
Während die Marvel-Kinofilme großen Einfluss auf «Agents of S.H.I.E.L.D.» haben, beeinflusst die Fernsehserie zuweilen das Comicuniversum: Seit Dezember 2014 erscheint in den USA ein "Agents of S.H.I.E.L.D."-Comic, der von der Kontinuität der Film- und Serienwelt losgelöst ist und stattdessen im Haupt-Comicuniversum Marvels angesiedelt ist. Trotzdem tauchen darin die wichtigsten Figuren der Fernsehserie auf – in minimal veränderter Form. Darüber hinaus startete im Oktober 2014 eine eigene Heftreihe rund um Deathlok. Der Cyborg war eine relativ obskure Marvel-Schöpfung, ehe er wiederholt in der TV-Serie aufkreuzte und so eine neue Fanbase eroberte.Crossmediales Fernsehen im non-fiktionalen Bereich ist allein schon dank interaktiver Talk- und Castingshows längst etabliert. Crossmediale fiktionale Fernsehstoffe dagegen sind weitestgehend eine Randerscheinung. Diverse Fernsehserien versuchten es in der Vergangenheit mit Romanablegern, einige verfolgen diese Strategie sogar heute noch – doch Tie-In-Druckerzeugnisse wie die «Castle»-Romane haben wenig bis gar keinen Einfluss auf den Serieninhalt. Auch Web-Miniepisoden werden immer wieder in Angriff genommen, wollen sich aber nicht so wirklich durchsetzen. Aber eine Form des crossmedialen Serienerzählens sorgt durchaus für Aufsehen: Die enge Verknüpfung zwischen der ABC-Serie «Marvel's Agents of S.H.I.E.L.D.» und den Marvel-Kinofilmen. Immer wieder spielt das Fernsehformat auf die Kassenschlager der Marvel Studios an, und gelegentlich schneien auch Figuren aus den Kinofilmen vorbei – wie etwa in Episode 15, in der Jamie Alexander als Lady Sif auftritt.
Episode 16 der Marvel-Agentenserie wiederum lief in den USA kurz vor Kinostart des Blockbusters «The Return of the First Avenger» im Fernsehen und bereitet den explosiven Politthriller intensiv vor: Die Figuren erfahren, dass sich ein Verräter in ihrer Mitte befindet, der einer gefährlichen Organisation innerhalb von S.H.I.E.L.D. angehört – und machen somit eine ähnliche Entdeckung wie Captain America in seinem Blockbuster-Abenteuer. Episode 17, in Deutschland „Der Feind an unserer Seite“ betitelt, muss sich schließlich mit den zahlreichen Plottwists von «The Return of the First Avenger» beschäftigen und dient somit praktisch als Soft-Reboot der gesamten Serie. Die zentrale Thematik verschiebt sich (aus einer „Mission of the Week“-Agentenserie wird praktisch eine Spionage-Survivalserie), zahlreiche Figuren wechseln die Seiten oder enthüllen ihre wahre Gesinnung und auch der Tonfall verschiebt sich.
Dass ein Kinofilm eine Fernsehserie dermaßen in ihren Grundfesten erschüttert, war zuvor unerhört. Zwar hatte auch der 1998 gestartete «Akte X»-Film Einfluss auf die Kontinuität der Serie, jedoch fungierte dieser als Standardepisode im Leinwandformat – und nicht etwa als überdimensionaler, wichtiger Wendepunkt. Für Mulder und Scully blieb nach dem Kinofilm alles beim Alten. Nicht so bei Marvel: Mit einem Schlag sind die «Agents of S.H.I.E.L.D.»-Hauptfiguren, wie Ausführender Produzent Jed Whedon erläutert, nicht weiter „Mitglieder der größten Organisation der Menschheitsgeschichte, sondern eine bunt zusammengewürfelte Truppe, die Reste zusammenkehren muss“. Obwohl selbst jetzt, knapp ein Jahr nach dem «The Return of the First Avenger»-Kinostart, manche Serienzuschauer bezweifeln, dass die «Agents of S.H.I.E.L.D.»-Macher wussten, was sie tun, schwören die Produzenten, dass es stets ihr Plan war, gegen Ende der ersten Staffel diese radikale Wende zu machen.
Jeph Loeb, ebenfalls ausführender Produzent, erklärt gegenüber 'IGN': „Wir kannten von Beginn an den Plot von «The Return of the First Avenger». Man muss Leute stets daran erinnern, dass man beim Filmemachen mindestens zwei Jahre im Voraus plant. Wir haben mit der Arbeit an unserer Serie derweil ein Jahr vor «The Return of the First Avenger» angefangen, also haben wir uns von Vornherein mit dem Studio zusammengesetzt und erläutert, was unser Plan ist.“ Somit handelten Loeb und Co. ganz im Sinne von Kevin Feige. Der Marvel-Studios-Boss wollte laut «The Return of the First Avenger»-Koautor Christopher Markus „bis zu einem bestimmten Zeitpunkt S.H.I.E.L.D. aushebeln, und zwar zu Gunsten des «Avengers»-Storytellings.“ 'TV Line' zitiert Markus weiter: „Es sorgt für wesentlich mehr Freiraum, weil sich niemand mehr an die 'Cops' wenden kann.“ Koautor Stephen McFeely ergänzt: „Von nun an müssen alle in einer gesetzlosen Welt operieren.“
Der Cast aber wurde erst während der Dreharbeiten zu Staffel eins über dieses Vorhaben in Kenntnis gesetzt. Laut Melinda-May-Mimin Ming-Na Wen bekam das Ensemble vor Drehbeginn der sechs abschließenden Episoden der ersten Staffel eine Rohfassung des zweiten Captain-America-Kinoabenteuers gezeigt. Da die Schauspieler zuvor auch keine Skripts für die letzten Serienfolgen vorgelegt bekamen, war dies Marvels Art, ihnen zu sagen, wo die Reise hingeht. Die kollektive Reaktion war laut May ebenso schockiert wie von Vorfreude geprägt: „Wir waren verwirrt und aufgebracht. 'Was zur Hölle passiert da?!' Kein anderes Franchise versuchte jemals so etwas, also galt es, Daumen zu drpcken, dass alle Puzzleteile zusammenpassen.“
Qualitativ hat sich das Experiment zweifelsohne ausgezahlt: Die finalen Episoden der ersten Staffel sowie die bisherigen Folgen der zweiten Season holten in den USA bessere Kritiken und enthusiastischeres Fanfeedback als die S.H.I.E.L.D.-Abenteuer vor der großen Wende. Neben der spannenderen Prämisse wird auch das Marvel-Kentnisse entlohnende, nicht aber voraussetzende, Storytelling gelobt. Aus Quotensicht aber blieb die erhoffte Trendwende aus: Die Episoden, die «The Return of the First Avenger» vorbereiteten respektive die darin behandelten Storyaspekte fortführten, konnten den langsamen, aber verlässlichen Sinkflug der Serie nicht aufhalten. Da «Marvel's Agents of S.H.I.E.L.D.» viele VoD-Aufrufe aufweist, muss sich das Format zwar keine all zu große Sorgen hinsichtlich seiner Zukunft machen, trotzdem führt es vor, dass ein umfangreiches fiktives Universum nicht automatisch immensen Publikumserfolg bedeutet.
Letztlich ist das TV-Serien, Kinofilme und demnächst auch Netflix-Formate umfassende Experiment namens 'Marvel Cinematic Universe' mit einem Kartenhaus zu vergleichen: Je mehr Einzelteile hinzukommen, desto beeindruckender ist das Gesamtwerk. Doch es wird zugleich immer fragiler – schon ein schlecht platziertes Element bedroht die Statik des Ganzen. Das wird sowohl bei Marvel als auch beim Konkurrenten DC fast schon mit hübscher Regelmäßigkeit in den Comics deutlich: Die mehrere Heftreihen übergreifende innere Kontinuität der Sprechblasenheftchen-Welten hat aufgrund ihrer logistischen Expertise einen unfassbaren Reiz, überfordert aber auch Novizen und führt auf langer Sicht zwangsweise zu Logikproblemen. Weshalb die Autoren das Universum dann und wann kollabieren lassen, um wieder bei Null anzufangen.
Da Marvel noch mindestens bis 2019 neue 'MCU'-Filme herausbringt und zudem demnächst die ebenfalls in dieser Welt verorteten Netflix-Serien starten, zeigt zumindest die Bewegtbildwelt des Comicgiganten aber keinerlei suizidale Tendenzen. Und auch Mutterkonzern Disney ist auf den Geschmack gekommen: Aufgrund des Erfolgs des multimedialen Marvel-Universums wird diese Vorgehensweise nun auch bei «Star Wars» kopiert: Die Animationsserie «Star Wars Rebels» bereitet die neuen Kinofilme ebenso vor wie eine neue Comic- und Romanreihe. Diese wiederum unterstellen sich, ganz so wie die Marvel-Fernsehen, jedoch dem Diktat der großen Leinwandgeschichten – deren Ereignisse haben stets Vorrang. Daher beschlossen Lucasfilm und Disney auch, dass das bisherige 'Expanded Universe' an alten Romanen, Games und Comics mit dem «Star Wars»-Label nicht weiter als Kanon gilt. So sollen die Filmemacher bei der Ideenfindung für neue Kinoabenteuer größere Freiheiten erhalten. Das in Zukunft entstehende, crossmediale Storygeflecht wird eh schon komplex genug, da bräuchte es keine Altlasten, die den raren narrativen Freiraum bedrängen. Anders gesagt: Man baut keine Kartenhäusern auf wackligen Tischen.