Christian Richter erinnert an all die Fernsehformate, die längst im Schleier der Vergessenheit untergegangen sind. Folge 305: Eine besonders skurrile Ausgabe der Talkshow «Hans Meiser», die dem ganzen Genre schaden sollte.
Liebe Fernsehgemeinde, heute gedenken wir eines gewagten Experiments, das unabsichtlich ein neues TV-Zeitalter einläuten sollte.
Die Aprilscherz-Folge von «Hans Meiser» lief am 31. März 1999 bei RTL über den Bildschirm und entstand zu einer Zeit, als sich der Boom an Daily Talkshows gerade auf einem Höhepunkt befand. Noch wenige Wochen zuvor ging mit «Sabrina» allein bei RTL die mittlerweile fünfte Variante an den Start. Jetzt war es möglich, täglich zwischen 10.00 und 17.00 Uhr nahtlos eine Talkshow nach der anderen zu verfolgen – fast durchgehend sogar auf zwei Kanälen gleichzeitig. Angesichts dieser enormen Flut an Vertretern war ein baldiges Ende dieses Trends vorprogrammiert und deutete sich bereits an. Zu wenige Unterschiede boten die insgesamt zwölf Varianten dafür an.
In der Konsequenz entstand ein enormer Wettlauf unter den Redaktionen um die spektakulärsten Gäste, brisantesten Enthüllungen und emotionalsten Konflikte. Schließlich sorgten nicht mehr wie noch vor wenigen Jahren schlüpfrige Themen zu ausgefallenen Sexualpraktiken für verlässliche Zuschauerzahlen, sondern nun vor allem Auseinandersetzungen und Streitigkeiten, die im Studio zur Eskalation gebracht werden konnten. Insbesondere wenn diese mit Beleidigungen und leichten Handgreiflichkeiten verbunden waren. Monothematische Sendungen, in denen ein übergreifendes, vielleicht gesellschaftlich relevantes Thema von mehreren Betroffenen diskutiert wurde, wichen immer häufiger solchen Ausgaben, in denen persönliche Zerwürfnisse im Vordergrund standen. Mit einer ähnlichen Rezeptur hatten sich in den USA auch Jerry Springer, Jenny Jones und Ricki Lake gegen die übergroße Konkurrenz von Oprah Winfrey durchgesetzt. Der Bedarf an geeigneten Kandidaten, die bereit waren, sich öffentlich zu streiten, stieg daher stetig an.
Angesichts zunehmend bizarrer Auftritte und vermehrter Talkshow-Touristen, kam bei den Zuschauern, Fernsehkritikern und Medienwächtern bald der Verdacht auf, unter den unzähligen Gästen könnten sich auch fingierte Geschichten befinden. Die Branche sah sich damit zu allem Überfluss mit einem zusätzlichen Verlust der Glaubwürdigkeit konfrontiert. Auf dem Höhepunkt dieser Identitätskrise platzierte der Moderator Hans Meiser, der das Genre in Deutschland einst etabliert hatte, eine denkwürdige Ausgabe, die sich zwar als wegweisend herausstellen, zugleich aber all den Diskussionen und Kritikern zusätzliches Futter liefern sollte. Unter dem Titel „Heute rechne ich mit Dir ab" präsentierte er eine komplette Sendung, die ausnahmslos aus frei erfundenen Geschichten bestand und von Schauspielern sowie Laiendarstellern vorgetragen wurde.
Einer von ihnen war der gelernte Strasberg-Schauspieler
Peter Körner aus Köln. Gegenüber Quotenmeter.de erklärt er, dass man bei einem Casting auf ihn aufmerksam geworden sei und ihm ca. zwei Wochen vor der Aufzeichnung ein komplettes Drehbuch samt Regieanweisungen übersandt hätte. Er schlüpfte in die Figur des KfZ-Mechanikers Peter Lukowski, der die üppig ausgestattete Friseurin Betty öffentlich mehrfach begrapscht hatte. Im Studio traf Körner dann in seiner Rolle nicht nur auf sein angebliches Fummelopfer, sondern auch auf deren Bodybuilder-Freund, von dem er direkt Prügel angedroht bekam. Im Verlauf der Show offenbarte Körner skriptgemäß, dass er für sein Verhalten gar nicht verantwortlich war, weil er von einer Wahrsagerin dazu verflucht wurde, nachdem er deren Rechnungen nicht mehr begleichen konnte. Erst als Hans Meiser der ebenfalls anwesenden Hexe zusagte, die offenen Verbindlichkeiten zu begleichen, versprach sie, den Fluch aufzuheben. Dennoch kam es zu einer abschließenden Handgreiflichkeit zwischen dem eifersüchtigen Freund und dem verfluchten Autoschrauber.
„Mir hat das damals viel Spaß gemacht“, erinnert sich Peter Körner, der mittlerweile auch als Schauspiellehrer tätig ist, weiter: „Für mich war das Comedy“, die immerhin mit einem Honorar von 500 DM belohnt wurde. Er bestätigt, dass sämtliche Protagonisten eingeweiht waren und vom Team vorgeschriebene Rollen spielten. Allerdings hätten nur er und seine Kollegin, welche die Hexe dargestellt hatte, die Schauspielerei professionell betrieben. Die restlichen Beteiligten seien lediglich talentierte Laien gewesen. Abseits einiger platzierter Störenfriede wäre auch das Studiopublikum nicht eingeweiht worden und hätte authentisch reagiert.
Zu sehen war an diesem Nachmittag also ein Mann, der von einer beleidigten Schamanin dazu verzaubert wurde, andere Frauen sexuell zu belästigen. Allein diese Story ließ das Niveau der Episode sowie die Kreativität der verantwortlichen Redakteure erahnen. Dabei war dies nicht einmal die absurdeste Konstellation des Tages. Davor gestand eine junge Frau, dass sie wenige Tage vor ihrer Hochzeit Fotos gefunden hätte, die ihren Verlobten beim Sex mit einer anderen Frau zeigten. Die anschließende Konfrontation mit dem ertappten Paar endete letztlich in lautstarken Beleidigungen sowie in der Auflösung der Verlobung. Außerdem traf der junge Marco auf seinen frauenfeindlichen und homophoben Vater, der ihm zu seinem 18. Geburtstag stolz einen Bordellbesuch geschenkt hatte. Als sich Marco dann jedoch auf der Bühne als homosexuell outete, begann eine weitere heftige verbale und niveaulose Auseinandersetzung, in die genauso seine ahnungslose Freundin einstimmte. Garniert wurde all dies mit Marcos aktuellem Freund, der seinen Liebhaber vehement verteidigte und eine Schlägerei mit dem Vater begann, die von Ordnungskräften unterbunden werden musste.
Die Spitze der Absurdität erreichte das Team mit einem angeblichen Streit unter WG-Bewohnern. Dass dabei ein Mann auf der gemeinsamen Toilette von einer Ratte in die empfindlichste Körperstelle gebissen wurde, war nur ein amüsantes Detail am Rande. Im Zentrum der Auseinandersetzung stand vielmehr eine junge Dame, die ständig die Asche ihres verstorbenen Freundes in einer Urne umhertrug. Außerdem hatte sie sein gefrorenes Sperma in der gemeinsamen Tiefkühltruhe aufbewahrt, wodurch sich das zu Würfeln gefrorene Erbgut versehentlich schon einmal in die Cola ihres Mitbewohners verirrt hatte. Im Finale offenbarte dieser dann, dass der geliebte Ex-Freund eigentlich bisexuell veranlagt gewesen wäre und auch mit ihm geschlafen hatte. Im darauf aufkommenden Handgemenge fiel schließlich die Urne zu Boden und die Asche des Verstorbenen wurde auf der Bühne verteilt. Was für ein Spektakel.
Abgesehen von der Überzogenheit der Ereignisse gab es jedoch bis zum Schluss keinen Hinweis darauf, dass sämtliche Vorfälle inszeniert waren. Erst ganz am Ende im Rahmen der Verabschiedung bemerkte Hans Meiser kurz, dass morgen der 1. April sein würde und entlarvte damit das zuvor dargebotene Theater. Warum es aber am 31. März und nicht direkt am 1. April gezeigt wurde, blieb offen. Obwohl es sich nachweislich nicht um die erste Talkshow handelte, bei der Auftritte gestellt wurden – Peter Körner berichtet beispielsweise davon, bereits im April 1998 das erste Mal für «Hans Meiser» engagiert worden zu sein – erreichte jene aus dem März 1999 mit ihren grotesken Ereignissen und ihrem krawalligen Ausgang ein neues Level der Provokation, weswegen sie erwartungsgemäß in die öffentliche Diskussion geriet. So stritten noch während der Ausstrahlung einige Zuschauer im Internet über sie und zweifelten ihre Echtheit an.
Vor allem riefen die Vorkommnisse jedoch den Medienrat der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien auf den Plan, dessen Vorsitzender Klaus Kopka verlauten ließ, dass es ihm bei der betreffenden Ausgabe von «Hans Meiser» die „Sprache verschlagen“ hätte. Weiter hieß es in der entsprechenden Presseerklärung: „Der Sender gehe wohl davon aus, dass die Meiser-Talkshows bis zur letzten Minute und darüber hinaus von allen Zuschauern gesehen werden. Dies ist aber mit Sicherheit nicht der Fall, so dass ein Großteil der Zuschauer von dieser gestellten Sendung überhaupt nichts erfährt.“ Daher drohte er, die Landesparlamente sowie den Bundestag über die Vorfälle zu informieren, damit diese bei der Beratung über einen neuen Rundfunkstaatsvertrag auch eine Verlegung der Daily Talks aus dem Nachmittags- ins Abendprogramm in Erwägung ziehen sollen.
Vorausgegangen war dieser Drohung ein öffentlicher Kleinkrieg zwischen Kopka und Meiser, der damit begann, dass Kopka (wenige Tage vor der Premiere der inszenierten Episode) in der BILD am Sonntag mit den Worten zitiert wurde „Was bei Hans Meiser läuft, ist unter aller Sau.“ Daraufhin verfasste Meiser wiederum einen öffentlichen Brief, in dem er Kopka „übelste Demagogie” und eine “Instrumentalisierung” seines Amts für “ganz persönliche geschmäcklerische Moralvorstellungen” vorwarf.
Wie zu erwarten, ließ sich Meiser von Kopkas Drohungen nicht beeindrucken und antwortete trotzig mit einer weiteren komplett inszenierten Folge. Diese wurde am 10. Mai 1999 und damit anlässlich des Muttertags unter dem Motto „Mami, mit Dir hab’ ich noch eine Rechnung offen“ übertragen. Darin kam es zu erneuten Streitigkeiten, die sich erneut aus absurden Geschichten entwickelten. Unter anderem bewies eine Mutter, dass sie mit ihrem Schwiegersohn geschlafen hatte, indem sie dessen Intimschmuck beschreiben konnte. Erneut flogen Schimpfworte, Fäuste sowie Perücken durch die Kulisse und erneut offenbarte Meiser erst am Schluss, dass sämtliche Stories erfunden waren. Diesmal hingegen mit einem Seitenhieb in Richtung Klaus Kopka, denn er bemerkte, dass die „Märchen“ der Aprilsendung „so manchen Medien– und Moralapostel aufgeregt” hätten.
Zwar löste das zweite Special nochmals eine Kontroverse aus, diese geriet jedoch weniger öffentlich und konzentrierte sich eher auf brancheninterne Vertreter. Beispielsweise distanzierten sich sowohl das konkurrierende Produktionsunternehmen Schwartzkopf TV als auch der Konkurrenzkanal Sat.1 ausdrücklich von der wiederholten Gestelltheit der Gespräche, weil damit die Glaubwürdigkeit des gesamten Genres bedroht würde. Zusätzlichen Gegenwind erhielt Meiser von der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen, deren Vorsitzender Joachim von Gottberg den Zeitpunkt des Programms als problematisch empfand: „Wenn die Sendung am 1. April gelaufen wäre, hätten die Zuschauer sie vielleicht von vornherein mit anderen Augen angesehen. So aber haben die Leute das übliche Geschäft erwartet.“
All der öffentlichen Kritik zum Trotz erreichten die beiden umstrittenen Ausstrahlungen überdurchschnittliche Einschaltquoten. Im März etwa wurden 1,46 Millionen Zuschauer registriert, von denen 0,55 Millionen zur werberelevanten Zielgruppe gehörten. Diese Werte stiegen zum Muttertag sogar noch einmal deutlich an. Dadurch lagen die gemessenen Marktanteile an diesen Tagen jeweils deutlich jenseits der 20-Prozent-Marke und waren so hoch, wie schon jahrelang nicht mehr. Damit begründeten Hans Meiser und sein Team einen neuen Trend, denn bald sollten dramatisierte oder gar komplett erfundene Beiträge bei vielen Wettbewerbern zur einer gängigen Praxis werden. In einigen Fällen - wie etwa bei «Nicole – Entscheidung am Nachmittag» - wurden später sogar alle Auftritte gestellt. Diese fortschreitende Überreizung sorgte allerdings zusammen mit der anhaltenden Übersättigung für ein baldiges Ende des Genres.
Die Reihe «Hans Meiser» überlebte noch bis zum März 2001 und fiel letztendlich ebenfalls dem selbstangezettelten Talk-Sterben zum Opfer. Ersetzt wurde sie (wie die meisten Varianten) zunächst durch Gerichtsshows und später durch Scripted-Reality-Dokus, bei denen die kompletten Abläufe ausgedacht und von Laiendarstellern gespielt wurden. Übrigens, nach der Aprilscherz-Ausgabe beschwerte sich ein besorgter Bestatter bei seinem Berufsverband, dem Bund freier Bestatter e.V., über den Umgang mit der verschütteten Asche aus der Urne. Er forderte eine rechtliche Prüfung aus Angst, mit einem solchen Verhalten könne die Trauerkultur nachhaltig geschädigt werden. Wenigstens ein Zuschauer schien die Darstellung damit für überzeugend gehalten zu haben.
Möge die Show in Frieden ruhen!
Die nächste Ausgabe des Fernsehfriedhofs erscheint am Donnerstag, den 30. April 2015.
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