Die PR-Maschine verkauft «Fifty Shades of Grey» als cineastisches Ausnahmewerk. Dabei haben nackte Körper und SM-Spielchen auch außerhalb des Pornos eine lange filmische Tradition ...
Skandalwerk. Schmuddelkram. Sensation. Eine US-Seite ernennt «Fifty Shades of Grey» sogar zu dem Werk, das Pornografie im Alleingang massentauglich machte. Der Bestseller und seine am 12. Februar 2015 startende Verfilmung wirbeln ordentlich Staub auf. Keine schlechte Leistung für eine «Twilight»-Fanfiction, die von ihrer Autorin zunächst aufgrund giftiger Kommentare von diversen Fanseiten runter genommen wurde. Erst danach wurde sie mit neuem Titel, neuen Figurennamen und weiteren kleineren Änderungen auf einer eigenen Webseite (dann als E-Book, dann letztlich als gedruckter Bestseller) wiederveröffentlicht und verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Erfolgsgeschichten können halt überall herkommen, und mit ihnen entstehen gerne auch Hypes, die mitunter mit einer guten Prise Verblendung gewürzt sind. Denn all zu gern lassen sich «Fifty Shades of Grey»-Fans oder Medien, die über den Film und / oder die Bücherreihe berichten, zu unverdienten Superlativen hinreißen. Eine Revolution, ein Novum, ein Durchbruch, der erste große, in der Mitte der Gesellschaft angelangte Erotikerfolg – als all das wird «Fifty Shades of Grey» bezeichnet. Obwohl es in Literatur und Film seit jeher pikante Stoffe gibt, die enorme Aufmerksamkeit erlangen.
Die meisten der freizügigen Filmrenner starteten in den 70er-Jahren, vornehmlich in der Zeit zwischen dem Aufkommen (pseudo-)wissenschaftlicher Aufklärungsmaterialien und der juristischen Freigabe von Pornografie in West-Deutschland. Allein das Jahr 1970 bot unter anderem den semi-dokumentarischen Film «Oswalt Kolle – Dein Mann, das unbekannte Wesen» (3,5 Mio. Besucher), den Softerotik-Film «Liebesmarkt in Dänemark» (2,5 Mio. Besucher) und den ersten von 13 «Schulmädchen-Report»-Filmen. Die von der Rapid Film GmbH produzierten Filmchen, die sich ihren Titel von einem Sachbuch-Besteller geliehen haben, sind aus heutiger Sicht zwar lächerlich, die ersten Produktionen dieser deutschen Export-Marke waren jedoch deutlich größere Skandale, als es sich «Fifty Shades of Grey» erträumen könnte. Zur Verteidigung der Jugendschützer, die sich damals auf den Plan gerufen fühlten, muss jedoch angemerkt werden, dass es nicht primär die vielen Nacktaufnahmen waren, die in der Kritik standen.
Viel mehr wurde die «Schulmädchen-Report»-Reihe gescholten, weil sie vorgibt, einen „dokumentarischen Anstrich“ (so der 'Evangelische Filmbeobachter') zu haben, obwohl sie weitestgehend nur „Gefühlskitsch“ ('Lexikon des Internationalen Films') oder realitätsverzerrende „Altherrenfantasien“ (so Medienwissenschaftlerin Annette Miersch) bietet. Im Grunde waren die «Schulmädchen-Report»-Filme mit ihrer pseudoauthentischen Form, ihren preisdrückenden Produktionsumständen und der von Medienbeobachtern verrissenen inhaltlichen Qualität die Scripted Realitys der 70er. Auch den unerklärlichen Erfolg teilen sie sich mit ihnen: Teil eins der Nackidei-Filmsaga etwa lockte rund sieben Millionen Menschen in die Lichtspielhäuser.
Aber es gab auch sexuell aufgeladene Erfolge, die zumindest seitens der Filmkritik verteidigt wurden. Paradebeispiel: Bernardo Bertoluccis «Der letzte Tango in Paris», der zwar ebenfalls von Moralhütern angegriffen, jedoch im Feuilleton als leidenschaftliches, bahnbrechendes, brillantes Meisterwerk bejubelt wurde. Zwei Oscar-Nominierungen gab es für das Romantikdrama, in dem Marlon Brando und Maria Schneider zwei Fremde spielen, die eine wortkarge, heftige, sexuelle Beziehung zueinander aufbauen. Die Szene, in der Brando beim Analverkehr ein Stück Butter als Gleitmittel benutzt, ging in die Filmgeschichte ein und schockierte Millionen von Zuschauern. Und ganz gleich, wie sehr die «Fifty Shades of Grey»-Macher sich mit ihren 20 Minuten Laufzeit an Sexszenen rühmen: Es darf bezweifelt werden, dass auch nur eine einzige der Sequenzen an die Intensität und provokante Wirkung eben dieses Filmmoments heranreichen wird.
Selbst die wirtschaftlichen Maßstäbe, die «Der letzte Tango in Paris» setzte, werden schwer zu toppen sein: In Deutschland wanderten 5,2 Millionen Menschen in die US-amerikanisch-italienische Koproduktion. 1975 näherte sich in Deutschland der Softerotik-Chic seinem Ende – nicht, ohne vorher mit der Verfilmung des SM-Romans «Die Geschichte der O» auch dieses Thema 3,5 Millionen Kinogängern nahe zu bringen. Der vorab vermutete Skandal blieb weitestgehend aus, viel mehr wurde die bildästhetische Umsetzung bemängelt ('Filmdienst': „bestenfalls [..] kitschiges Kunstgewerbe im 'Vogue'- und 'Playboy'-Look“).
Erst 1986 wurde es im Mainstream-Kino wieder pikant – zumindest in Europa. Denn die US-Erotikromanze «9 ½ Wochen» mit Mickey Rourke und Kim Basinger erschien in hiesigen Gefilden in einer längeren Fassung als in ihrem Mutterland und wurde gemeinhin zum Kassenschlager. Das Drehbuch wurde zwar zumeist gescholten, die Leinwandchemie zwischen den Hauptdarstellern und die sinnliche, wenngleich nicht all zu freizügige, Inszenierung wurde ebenfalls gelobt – was erneut dafür sorgte, dass Essens- und Fesselspielchen in aller Munde waren. In Deutschland wurden 1,58 Millionen Tickets gelöst, außerdem entwickelte sich der Film weltweit zum Videotheken-Renner, weshalb er trotz der enttäuschenden US-Einnahmen (knapp sieben Mio. Dollar bei einem Budget von 17 Mio.) zwei Video-Ableger erhielt
In den 90ern wurde das Popcornkino dann wieder sehr züchtig, was sich auch darin äußerte, dass Steven Soderberghs Kriminalkomödie «Out of Sight» 1998 trotz äußerster Zurückhaltung in zeitgenössischen Filmkritiken mitunter als „sinnlichster Film aller Zeiten“ gelobt wurde – die Sensibilitäten hatten sich zweifelsohne geändert. Auch nach der Jahrhundertwende wurden große Produktionen vielleicht gewalttätiger, nicht aber freizügiger – von einzelnen Komödienausnahmen gerade im deutschen Raum vielleicht abgesehen (Stichwort: Oralverkehranleitungen und Nora Tschirners Brüste in «Keinohrhasen», ein Riesenglied in «Zweiohrküken»). Gleichwohl erfand sich die Sexualität in Independent-Produktionen völlig neu: Filme wie «9 Songs» oder «Brown Bunny» zeigen expliziten, unsimulierten Sex, eingebettet in eine kunstvolle Erzählweise.
Da derartige Produktionen zumeist nur ein Nischenpublikum anvisieren, blieb stets der große Rummel aus, den «Fifty Shades of Grey» mit seiner lauten PR-Maschinerie zu erzeugen vermochte. Einzig Provokateur Lars von Trier kam mit «Nymphomaniac» in die Schlagzeilen – angefeuert durch die Kontroversen um seine Person und die sehr polarisierenden Kritiken des Films. Gleichzeitig blieben auch die rigiden Strafen der Jugendschützer aus – in Deutschland sind einige (wenngleich längst nicht alle) Arthouse-Dramen trotz expliziter Sexualität ab 16 Jahren freigegeben. Ebenso wie die französische Lesbenromanze «Blau ist eine warme Farbe» (Foto rechts) mit Léa Seydoux und Adèle Exarchopoulos, die dank ihrer zahlreichen Auszeichnungen und einer knapp zehnminütigen (simulierten) Sexzene erstmals wieder eine lautere Debatte über die Darstellung von Sexualität im Kino auslöste. «Fifty Shades of Grey» kann es also noch so oft behaupten – neu und schockierend ist das alles nicht, ganz zu schweigen davon, dass Filme wie «Fessle mich!» (1990), «Secretary» (2002), «Shortbus» (2006) und «The Duke of Burgundy» (2014) auch das ach-so-neue Thema BDSM intensiv durchexerzierten. Eigentlich ist bei «Fifty Shades of Grey» nur die Kernzielgruppe neu – Leserinnen und Leser, die frisch «Twilight» entwachsen sind …