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Ist das öffentlich-rechtlich oder privat?

Mit «Tag X – Mein Leben danach» zeigt ZDFneo eindrucksvoll, wie die Grenzen zwischen Privatfernsehen und öffentlich-rechtlichem Programm immer weiter verschwimmen. Eine Polemik.

Über Dirk Heinrichs

Dirk Heinrichs ist Gründer und Geschäftsführer des Vereins „Sprache gegen Gewalt“. Mit dem Verein arbeitet er in der Prävention unter anderem an Schulen, in Unternehmen oder in Familien. Als Experte in diesem Bereich ist er häufig auch im Fernsehen zu Gast. Der gebürtige Leverkusener ist des weiteren wissenschaftlicher Beirat des „Bündnis gegen Cybermobbing“.
Heinrichs ist außerdem Schauspieler. Er hatte eine Hauptrolle in der RTL-Serie «Die Sitte», die zwischen 2001 und 2004 produziert wurde.
Dirk Heinrichs ist ein Held. Mit einer wahren Hands-on-Mentalität eilt der Schauspieler und Präventionsaktivist einfach jedem zur Hilfe – so zumindest könnte man glauben, wenn man sich die Auftaktfolge der ZDFneo-Dokusoap «Tag X – Mein Leben danach» anschaut. Doch ist es keine Bewunderung, die sich beim Zuschauer breit macht, wenn er das Format sieht. Aber der Reihe nach. Worum geht es eigentlich? Der in der Sendung als „Präventionsexperte“ bezeichnete Heinrichs besucht Personen, die Opfer von Straftaten geworden sind. Und breitet ihre Schicksale auf der Mattscheibe lang und ausführlich aus. Worum es gehen sollte? Darum Opfern zu helfen. Und künftigen Straftaten vorzubeugen. Darum geht es aber nicht. Auch wenn der pathetische Off-Sprecher in einigen wenigen Momenten versucht etwas anderes zu vermitteln.

In Folge eins behandelt Heinrichs zunächst das Thema Stalking. Erzählt wird die Geschichte einer jungen Mutter, die längere Zeit vom Kindsvater verfolgt wird, mit dem sie nichts mehr zu tun haben möchte. Zugegebenermaßen eine komplizierte Lage. Das Problem: Die Darstellung der Geschichten ist fast durchweg einseitig. Sicher, es mag durchaus sein, dass sich die geschilderte Story so oder so ähnlich zugetragen hat. Sehr wahrscheinlich ist es sogar so, dass der Täter tatsächlich Täter und das Opfer tatsächlich Opfer ist. Diese Annahme sollte den verantwortungsbewussten Journalisten aber dennoch nicht daran hindern beide Perspektiven darzustellen. Und da reicht es eben nicht, einmal beim vermeintlichen Täter nachzufragen, ob er denn eventuell etwas sagen möchte. In der gewählten Darstellungsform hätte man bei dessen Absage zumindest jemandem aus dem Umfeld finden müssen. Denn selbst wenn es nicht besonders wahrscheinlich sein mag, es besteht dennoch die Möglichkeit, dass auch die Mutter sich falsch verhalten hat. Als Zuschauer ist man jedenfalls nicht in der Lage sich eine wirklich differenzierte Meinung zu bilden, wenn nur eine Perspektive dargestellt wird. Zumindest beim Thema Stalking wäre das definitiv notwendig gewesen, zumal auch die an das zuständige Gericht gestellten Fragen mehr als tendenziös sind und Dirk Heinrichs nur darauf hinarbeitet zu sagen, dass die Justiz das Problem nicht Ernst nimmt.

Es ist dann schon die absolute Ausnahme, wenn die Sendung doch mal etwas hintergründiger wird, es zum Beispiel den Tipp gibt ein Stalkertagebuch zu führen. Auch das ist keine revolutionäre Erkenntnis, aber immerhin etwas. Zu schade allerdings, dass dieser kurze positive Moment gleich wieder zerstört wird, weil es sehr dramatisierend zugeht. So werden Mordszenarien geschaffen und Ereignisse aus der Vergangenheit in nachgestellten schwarz-weiß Bildern wiedergegeben. Unterlegt ist das ganze Werk von unfassbar pathetischer Musik. Spätestens hier kontrolliert der Zuseher, ob er denn wirklich die richtige Taste auf seiner Fernbedienung gedrückt hat.

Als der erste Fall nach guten zwanzig Minuten endet, hat der Zuschauer schließlich Hoffnung auf Besserung. Vergebens: Der zweite Fall ist noch schlimmer. Erneut geht es um eine junge Dame, die Protagonistin will allerdings nicht beim Namen genannt werden. Die Redaktion entschied sich stattdessen für den Namen „Victoria“. Wirklich einig war man sich dabei aber offensichtlich nicht, denn einmal wird die Protagonistin auch „Viktoria“ genannt. Nun gut, mag sich der Zuschauer denken, wenn dass das Schlimmste ist, wäre es sicherlich halb so wild. Ist es aber beileibe nicht: Denn die junge Dame ist auf eine dermaßen simple Masche der Trickbetrüger hereingefallen, dass der Zuschauer an ihrem gesunden Menschenverstand zweifeln muss. Es sollte Mietinteressenten schon stutzig machen, wenn die Miete in einer Wohnung erstaunlich niedrig ist. Gibt es dann noch seltsame Geschehnisse im Kontakt mit dem angeblichen Vermieter, sind Besichtigungen nicht möglich und man wird dazu aufgefordert eine Auslandsüberweisung zu machen, weil der Gegenüber eben keinen Bock auf PayPal hat, dann sollte man doch stutzig werden. Oder man überweist halt 1000 Euro, wie es die Dame in dem behandelten Fall getan hat. Wer an dieser Stelle sagt, dass es da mit der Naivität eventuell ein wenig weit ging, der mag zwar recht haben. Die Verantwortlichen der Sendung scheinen das jedoch anders zu sehen, reden von miesen Betrügern und suchen die Fehler beim Webseitenbetreiber. Ist klar. Anders als bei Fall eins ist es immerhin nachvollziehbar, dass die Verantwortlichen beim Online-Mietbetrug keine wirkliche Gegenstimme finden.

Die Auseinandersetzung und das Sorgen für Opfer steht tatsächlich in der Tradition des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Eduard Zimmermann, der als Journalist den ZDF-Dauerbrenner «Aktenzeichen XY...ungelöst» ins Leben rief, war Mitgründer des Opferverbandes „Weißer Ring“. Doch selbst wenn der Verband in der Sendung am Rande mal erwähnt wird, an den eigentlichen Anspruch kommt «Tag X» nicht einmal im Geringsten ran. Klar ist: Viele Opfer brauchen Unterstützung und Hilfe ist mehr als angebracht. Doch stellt sich nicht nur die Frage, ob der gewählte Ausspielweg optimal ist, sondern auch, ob die gegebenen Tipps so sinnig sind. Die sind zwar oft nicht falsch, aber eben viel zu offensichtlich. Ein Beispiel: Der Berliner Opferbeauftragte – der einzige seiner Art in Deutschland, wie Heinrichs nicht müde wird zu betonen – empfiehlt einer traumatisierten Familie was? Genau: Eine Therapie. Wow. Wer wäre darauf schon gekommen.

Wenig Hoffnung auf Besserung machen da auch die Themen der kommenden Folgen. In Folge zwei gibt es beispielsweise eine Dame zu sehen, die sich nicht von den Fotos ihres angeblichen Geliebten trennen kann, obwohl sie weiß, dass es sich um ein Fake-Profil handelt. Was soll man dazu sagen. Außerdem im Programm: Mobbing, Handydiebstahl oder Trickbetrug. Spannend ist sicherlich, wie die Sendung mit dem schwierigen Thema sexueller Missbrauch umgeht. Darum geht es in Folge sechs – wenn die Ausstrahlung bis dahin durchgehalten wird.

Zu all den Absurditäten passt es nur zu gut, dass für die Dreharbeiten offensichtlich Protagonisten via Ebay-Kleinanzeigen gewonnen werden mussten, dass zuständige Behörden nach eigenen Angaben erst reichlich kurzfristig über anstehende Dreharbeiten informiert wurden und, dass anscheinend Verkehrsregeln missachtet worden sind .

Es gibt sie definitiv noch, die Leuchtturmprogramme des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Und ja, selbst wenn das gerne vergessen wird, auch die Unterhaltung gehört zum Programmauftrag von ARD und ZDF. Doch diese Dokusoap, die euphemistisch als Factual-Entertainment bezeichnet wird, hat damit überhaupt nichts zu tun – sie ist Populismus pur. Wäre nicht das Senderlogo oben in der Ecke zu lesen, der Zuschauer würde sich fragen, ob er RTL oder Sat.1 eingeschaltet hat. Dazu passt dann auch der Produzent: Ufa Show & Factual zeichnet für «Tag X» verantwortlich. Die haben aktuell noch Formate wie «Zuhause im Glück» oder die österreichische Variante von «Bauer sucht Frau» im Portfolio. Wäre zu hoffen, dass es sich bei der neuen ZDFneo-Sendung um einen kleinen öffentlich-rechtlichen Ausrutscher handelt. Mit der jüngeren Zielgruppe lässt sich diese Produktion jedenfalls nicht rechtfertigen. Abschalten, bitte.

10 Folgen «Tag X – Mein Leben danach» sind ab Donnerstag, 11.Dezember um 22.55 Uhr in ZDFneo zu sehen.
08.12.2014 10:48 Uhr Kurz-URL: qmde.de/74935
Frederic Servatius

super
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