Die neue Folge aus Wiesbaden ist zweifellos einer der besten «Tatorte» der letzten Jahre - und mit Sicherheit der kunstvollste.
Hinter den Kulissen
Vor der Kamera:
Ulrich Tukur als Felix Murot
Barbara Philipp als Magda Wächter
Ulrich Matthes als Richard Harloff
Golo Euler als David Harloff
Alexander Held als Alexander Bosco
Alexander Scheer als Donny
Shenja Lacher als Schneider
Hinter der Kamera:
Produktion: Hessischer Rundfunk
Drehbuch: Michael Proehl
Regie: Florian Schwarz
Kamera: Philipp SichlerRegelmäßigen «Tatort»-Kritikern wird nicht selten ein gewisser Hang zum Masochismus nachgesagt. Vielleicht ist da auch was dran. Seien wir einmal ehrlich: Es ist schon oft eine Zumutung, was das Erste sonntagabends so sendet: Lokalkolorit als konzeptueller Eckpfeiler, auf das Banalste runtergeschriebene Paraphrasierungen kontroverser gesellschaftlicher Zustände, der Versuch, Identifikationsmöglichkeiten auf Kosten des Intellekts zu schaffen, die zwanghafte Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner, die geradezu psychotische Anbiederung an Sendeplatzgewohnheiten, das Bedienen und Forcieren von Klischees, mehrere Dutzend Ermittlerfiguren in zwanzig Reihen, die sich dann aber doch so ähnlich sind wie Duisburg und Essen.
Und dann kommt da so ein «Tatort» wie der neue aus Wiesbaden. Da würde Ballauf und Schenk gleich die Currywurst aus der Hand fallen. Man glaubt es kaum: Die selbe ARD, deren Autoren letzten Sonntagabend nichts Besseres eingefallen ist,
als dass die Mutter eines entführten Mädchens ihren Mann mit Sofakissen verdrischt, zeigt diese Woche einen so kunstvollen, so intensiven, so fordernden Film wie „Im Schmerz geboren“.
Nach einem verrätselten, kunstvollen Prolog (!) geht es los wie bei Sergio Leone: Drei windige Typen stehen, mit allerhand Pistolen bewaffnet, an einem Bahnsteig und warten. Und Regisseur Florian Schwarz nimmt sich Zeit – ein knappes Gut in «Tatorten», wo anderswo erst Til Schweigers Allerwertester gebührend in Szene gesetzt werden muss oder abgedroschene Verfolgungsjagden in malerischen Landschaften ihr mit überzogenen Motiven inszeniertes Ende finden. Schwarz macht es intelligenter, mit einem feinen Sinn für Stimmungen: Als endlich ein Zug ankommt und ein seltsamer Mann aussteigt, werden die drei Männer niedergeschossen.
Der seltsame Mann ist aber garantiert nicht der Schütze. Wie Felix Murot auf den Bildern der Überwachungskamera erkennt, kommen die Schüsse aus einer ganz anderen Richtung. Noch seltsamer: Murot erkennt den Typen, der da ausgestiegen ist, sofort. Er heißt Richard Harloff und lebt seit über dreißig Jahren in Bolivien, wo er durch umfangreiche Drogengeschäfte steinreich geworden ist und Leichen seinen Weg pflastern.
Bevor Harloff nach Südamerika emigriert ist, war er mit Felix Murot eng befreundet. Mehr noch: Die beiden waren nicht nur zusammen auf der Polizeischule, sondern hatten mit einer jungen Frau auch eine Ménage à trois am Laufen. Irgendwann hat Harloff dann einen Batzen Drogen unterschlagen, das Mädel gepackt und ist mit ihr nach Bolivien abgehauen. Der Rest ist Geschichte.
Man will sich gar nicht ausdenken, was für eine haarsträubende Geschichte aus dieser Grundlage in anderen «Tatort»-Städten gesponnen worden wäre. In Köln würde Ballauf Schenk Fragen im Stil von „Wie war’n dat damals mit der Kleinen“ stellen, in München müssten Batic und Leitmeyer mit allerhand Phrasen und Taschenspielertricks Harloff stundenlang ergebnislos verhören, und in Hamburg würde Til Schweiger „Ich wusste damals auch nicht, dass aus dem mal so 'n beinharter Gangster wird“ nuscheln.
Zum Glück sind wir diese Woche in Wiesbaden. Da wird diese sehr starke Ausgangssituation nicht als billiger Vorwand hergenommen, um abgedroschene Allerweltsweisheiten zu paraphrasieren, und um zwei alte Männer, der eine moralisch über-, der andere unterlegen, von Früher quatschen zu lassen. Nein, Murot und Harloff liefern sich ein eindringliches Katz- und Maus-Spiel, tänzeln eineinhalb Stunden lang umeinander herum, geistig auf Zack und immer bei der Sache – und „Murot [muss] überrascht feststellen, wie er die Nähe eines Menschen genießen [kann], der den Großteil seines Lebens Tod und Verderben über andere Menschen gebracht hatte“. Es geht um Schuld, Sühne und Rache – stilistisch aber nicht vergleichbar mit dem Kindergartenniveau, das das Erste an zwei von drei Sonntagen zeigt, sondern eher mit einem Drama von Sophokles.
Die Dortmunder «Tatorte» mögen die relevantesten sein, aber „Im Schmerz geboren“ ist der kunstvollste seit langem, der schönste, der sentimentalste.
Michael Proehl hat ein breites Netz aus Anspielungen entworfen, auf Shakespeares „Tempest“ und „Hamlet“, auf Truffauts «Jules & Jim», auf Gemälde von van Gogh und Romane von Sherwood Anderson. Es wird selbstgefällige Gestalten geben, die das als intellektuelle Onanie abtun werden – doch die sind schlicht zu doof dafür, die Verwurzelungen in Handlung und Figurenorchestrierung zu erkennen. „Im Schmerz geboren“ gewinnt durch die Reflexion über Kunst und das konsequente Einreißen der vierten Wand mit seinen grandiosen Out-of-Character-Kommentierungen eine hoch interessante zweite Ebene, die weit über das allsonntägliche Dilettieren in gesellschaftlich relevanten Fragen hinausgeht. Es ist ein wunderbarer Film geworden – und zweifellos einer der besten «Tatorte» seit Jahren.
Das Erste zeigt «Tatort – Im Schmerz geboren» am Sonntag, den 12. Oktober um 20.15 Uhr.