Eine neue Folge aus Österreich, "Paradies", bildet den Auftakt der «Tatort»-Saison. Ist der Titel Programm?
Cast und Crew
Vor der Kamera:
Harald Krassnitzer als Moritz Eisner
Adele Neuhauser als Bibi Fellner
Hubert Kramar als Ernst Rauter
Simon Schwarz als Inkasso-Heinzi
Peter Weck als Paul Ransmayr
Branko Samarovski als Reinhard Sommer
Peter Fröhlich als Horst
Hinter der Kamera:
Produktion: epo-film
Drehbuch: Uli Brée
Regie: Harald Sicheritz
Kamera: Thomas W. Kiennast
Produzent: Dieter PochlatkoEin «Tatort» ohne Mord? Doch, das geht. Zumindest in Österreich, wo in der neuen Folge vom kommenden Sonntag viele Sendeminuten ins Land ziehen, bis sich der erste Todesfall als nicht gerade natürlich herausstellt.
Am Anfang steht Bibi Fellner am Flughafen und will endlich in ihren ersten Urlaub seit Jahren fliegen. Bevor sie einchecken kann, erhält die Majorin einen Anruf aus einem Pflegeheim in Graz, in dem ihr Vater seit Jahren lebt. Der alte Mann liegt im Sterben. Das Verhältnis der beiden war seit langem angespannt bis nicht existent: Ihr Vater war ein cholerischer Säufer und hatte sie in ihrer Kindheit körperlich wie seelisch schwer misshandelt. Trotz allem beschließt Bibi, in seinen letzten Stunden bei ihm zu sein und verschiebt ihren Urlaub. Kollege Eisner begleitet sie auf der schweren Reise in die Steiermark. Bibis Vater stirbt kurz nach ihrer Ankunft.
Die Überraschung ist groß, als Bibi im Geheimen von einer Heimbewohnerin ein Schlüssel zu einem Bankschließfach übergeben wird, in dem ihr Vater über 30.000 Euro gebunkert hatte. Schließlich war er am Ende seiner Tage mittellos gewesen, und das Pflegeheim, in dem er hausen musste, befindet sich in einem ruinösen Zustand. Schnell kommen Fellner und Eisner, eigentlich gerade nicht im Dienst, den dubiosen Kaffeefahrten auf den Trichter, in deren Rahmen die Rentner einmal in der Woche über die Grenze nach Ungarn kutschiert werden: Medikamentenschmuggel im großen Stil, lautet der erste Anfangsverdacht.
© ARD Degeto/ORF/Hubert Mican
Bibi Fellner, gespielt von Adele Neuhauser, arbeitet ein Kindheitstrauma auf. Mit dem «Tatort» am kommenden Sonntag wird das Thema Altersarmut aufgegriffen.
Eisner schleust daraufhin einen pensionierten Kollegen, den sinnesfrohen Reinhard Sommer, ins Pflegeheim ein: Doch der hat wenig Aufregendes zu berichten. Bis auf den illegalen Import allerhand Ginseng und Viagra ist da nicht viel. Die Obduktion von Bibis Vater und seines Mitbewohners, der kurioserweise wenige Tage vor ihm verstorben war, fördert jedoch Erstaunliches zu Tage.
Keine Frage: „Paradies“ ist politisch weit weniger brisant als Eisners und Fellners Fälle der jüngsten Vergangenheit, in denen es um
einen gesellschaftlich einflussreichen Pädophilenring,
Menschenhandel oder
neonazistische Umtriebe im Kern des heutigen österreichischen Staates ging. Das Thema Altersarmut wirkt in diesem Kontext vergleichsweise banal.
Und doch: Keine Minute lang ist man versucht, „Paradies“ die Abkehr von den bitter schweren Themen negativ auszulegen. Die grandiose Dichte dieser beiden Figuren Bibi Fellner und Moritz Eisner und das hervorragende, intensive Spiel von Adele Neuhauser und Harald Krassnitzer lassen einen einfach nicht los. Mit solch starken Charakteren und einem derart unprätentiösen Duktus kann man es sich sogar leisten, die allsonntägliche «Tatort»-Dramaturgie hinter sich zu lassen und statt einem Whodunit in Was-haben-wir-bis-jetzt-Form eine intensive tiefenpsychologische Tour de Force zu erzählen. Mit labberigen Mal-Good-Mal-Bad-Cops wie Leitmeyer/Batic oder Ballauf/Schenk will man sich das gar nicht erst vorstellen.
Die Österreicher liefern mit dieser Folge geradezu ein Musterbeispiel, wie man die Spagate schafft, die «Tatorte» so oft schaffen wollen: Intensiv und nahbar, dabei aber unprätentiös und klischeefrei. Wie Adele Neuhauser als gebeutelte trockene Alkoholikerin nach dem Tod ihres Vaters zusammen mit ihrem Kollegen Eisner in einem heruntergekommenen Wirtshaus sitzt und erzählt, was sie mit ihrem Erzeuger so alles mitgemacht hat, ist sensationell in seinem Minimalismus, durch den die Wirkung ins Unermessliche steigt. Die dystopischen Welten, die der «Tatort» im Land der Berge entwirft, sind Schreckensszenarien – mal politische, mal kriminelle oder, wie in diesem Fall, soziale und psychologische. Dramaturgisch dagegen sind sie geradezu ein Paradies.
Das Erste zeigt «Tatort – Paradies» am Sonntag, den 31. August um 20.15 Uhr.