Nachdem das Zeitzonen-Dilemma gelöst war, schien dem Sommer-Hit nichts mehr im Wege zu stehen. Falsch gedacht: Die amerikanische Premiere von «Rising Star» entpuppte sich als gewaltige Enttäuschung.
«Rising Star» in Deutschland
In Deutschland hat sich RTL die Rechte an dem Format gesichert und wird die Show noch in diesem Jahr (voraussichtlich ab September) auf Sendung schicken. Hergestellt wird das Format von der Firma Norddeich TV, die eine Zeit lang vor allem Scripted Reality-Formate oder den Talk «Die Oliver Geissen Show» produzierte. Weitere Einzelheiten über Moderation oder Jury-Besetzung sind aber noch nicht bekannt. In seinem Buch „Desperate Networks“ beschreibt Bill Carter eine ulkige Szene, die sich irgendwann in der ersten Jahreshälfte von 2002 im Büro des damaligen FOX-Reality-Chefs Mike Darnell zugetragen hat. Monatelang hatte man zu diesem Zeitpunkt schon an der geplanten Adaption der britischen Hit-Sendung «Pop Idol» gewerkelt und erst jetzt stieß man auf ein zentrales Problem, mit dem «American Idol» zu kämpfen haben würde: Im Mutterland Großbritannien entspann sich in der Live-Show-Phase des Formats ein starker dramaturgischer Bogen, indem man nach Ende der Gesangsshow am selben Abend ein zweites Mal auf Sendung ging, um die Ergebnisse zu verkünden und den Verlierer nach Hause zu schicken. Im Network-System der USA würde das unmöglich sein: FOX sendet unter der Woche lediglich zwei Stunden landesweites Programm pro Tag, wobei „landesweit“ auch nur New Yorker und Chicagoer Zeit bedeutet. Die Westküste bekommt außer bei Sportveranstaltungen und vergleichbaren Großereignissen grundsätzlich ihren eigenen zeitversetzten Feed. Würde man mit diesem System nun einmal pro Woche brechen, wären nicht nur diffizile medienrechtliche Fragen zu klären gewesen; viele Affiliates wären Sturm gelaufen.
Aufgrund der unmittelbaren Live-Einbindung der Zuschauer, die noch während der Performance per App bestimmen, ob ein Kandidat weiter kommt oder nicht, ist das Zeitzonen-Problem bei «Rising Star» freilich noch viel gravierender als bei den dramaturgischen Überlegungen zu «American Idol» vor zwölf Jahren. Anders als FOX mit «Idol» kann ABC bei «Rising Star» nicht einfach am nächsten Abend eine Entscheidungsshow senden. Das würde das zentrale dramaturgische Element, die landesweite Live-Abstimmung, deren Ergebnis sofort feststeht, unmöglich machen.
Man hat sich also zu radikalen Mitteln entschließen müssen, um die Zuschauer in der westlichen Zeitzone (u.a. Los Angeles, San Francisco, Seattle und Las Vegas) an der Sendung überhaupt beteiligen zu können: Während in den East-, Central- und Mountain-Zeitzonen zeitgleich zur dortigen Live-Ausstrahlung abgestimmt wird, stimmt die Westküste drei Stunden später getrennt vom Rest der USA ab, wenn die Sendung dort live-on-tape gezeigt wird. Kandidaten, die im Live-Betrieb ausgeschieden sind, können also noch weiterkommen, wenn der Westen per App wider Erwarten euphorisch „Ja“ sagt, wo alle anderen „Nein“ gesagt haben. Nur Hawaiianer bleiben bei der Show vollkommen unberücksichtigt.
Sie werden es verkraften. Denn nicht nur, dass die Quoten der Premiere
unter den Erwartungen an einen potentiellen Sommer-Hit ausgefallen sind: Die amerikanische Adaption des israelischen Formats aus dem Hause Keshet ist inhaltlich ein völliges Desaster.
Es war abzusehen, dass es die einfache und variationslose Dramaturgie von «Rising Star» – ein Kandidat singt hinter einer Wand, die sich hebt und den Blick auf die Publikumsränge im Studio frei macht, wenn er von siebzig Prozent der App-beteiligten Zuschauer ein Ja oder Schützenhilfe von der Jury bekommt – im amerikanischen Fernsehen nicht leicht haben wird. Von den Ideen, die sich ABC hat einfallen lassen, um dem entgegenzuwirken, hat sich jedoch keine einzige als tragfähig erwiesen. Im Gegenteil: Bei «Rising Star» scheint es um alles zu gehen, nur nicht ums Singen.
Die Einspielfilmchen vor den Auftritten erinnern in ihrer pathetischen Aufdringlichkeit und dem systematischen Abgrasen persönlicher Tragödien gar an das deutsche «Supertalent» zu seinen schlimmsten Zeiten – eine Maßlosigkeit an Überstilisierung, die im amerikanischen Fernsehen auch bei «Idol» und «Got Talent» nie erreicht worden ist.
Hinzu kommt eine völlig fehlbesetzte Jury, bestehend aus Kesha, die ihre Begründungen gerne mit „I really love your story“ einleitet und ansonsten mental nicht vollkommen anwesend zu sein scheint, Ludacris, dessen Rolle bei «Rising Star» sich darauf beschränkt, alte Simon-Cowell-Sätzchen aufzusagen, und dem Country-Sänger Brad Paisley, der hauptsächlich dadurch auffällt, dass er einen großen Hut trägt. Moderator Josh Groban wäre bezeichnenderweise wohl der fähigste Juror; als Host wirkt er aber so farblos, dass man sich kurzzeitig gar fragt, was eigentlich aus Brian Dunkleman geworden ist.
Die Qualität der musikalischen Acts reichte derweil von schwer erträglich (ein Duo aus dem Großraum Los Angeles, das „Counting Stars“ von OneRepublic so dahingemordet hat, dass man sich an die Vorrunden von «DSDS» erinnert fühlte) bis ganz nett (Hintergrundgeschichte der Kandidatin: junge, ambitionierte Immigrantin aus Südamerika, die mit ihrer dreizehnköpfigen Familie in einer Zweizimmerwohnung in Brooklyn haust), ist aber auch in den besten Momenten Lichtjahre von dem entfernt gewesen, was man von «The Voice» und «American Idol» kennt. Von dem Zauber
des israelischen Originals war nichts zu spüren.
Das amerikanische «Rising Star» ist alles andere als eine konsequente Weiterentwicklung des Casting-Genres. Im Gegenteil: Es missachtet all die neuen, qualitativ hochwertigen und dramaturgisch interessanten Impulse der vergangenen Jahre, setzt billige Emotionalisierung weit über jedweden musikalischen Qualitätsanspruch und lässt hinter dem Schall und Rauch der imposanten App-Wand nur den nackten Keshet, äh Kaiser, erkennen.
Dieser Stern wird in Hollywood bestimmt nicht lange am Himmel bleiben.