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Die Kino-Kritiker: «No Turning Back»

Ein Mann, sein BMW und eine Freisprechanlage: Das Thriller-Drama «No Turning Back» zeigt Tom Hardy in seiner besten Rolle.

Hinter den Kulissen

  • Regie und Drehbuch: Steven Knight
  • Produktion: Guy Heeley und Paul Webster
  • Musik: Dickon Hinchliffe
  • Kamera: Haris Zambarloukos
  • Schnitt: Justine Wright
Mit jedem filmischen Trend kommt auch eine Gegenentwicklung. So entführen einerseits seit der Optimierung der 3D-Technologie zahlreiche Big-Budget-Produktionen wie «Avatar – Aufbruch nach Pandora» ihr Publikum in farbenfrohe, dreidimensionale Welten, andererseits entdecken in jüngeren Jahren findige Regisseure wieder vermehrt den Reiz der schwarz-weißen Kinematografie. Und während Filmschaffende wie Alexander Payne («Nebraska»), Tim Burton («Frankenweenie»), Joss Whedon («Viel Lärm um nichts») oder Michel Hazanavicius («The Artist») mit einem stilvollen Verzicht auf Farbe gegen die Blockbuster-Reizüberflutung arbeiten, schlagen unter anderem Rodrigo Cortés («Buried – Lebend begraben»), Maren Ade («Alle anderen») und Roman Polanski («Der Gott des Gemetzels») einen ebenfalls berückenden Weg des Widerstands ein. Sie trotzen dem immer weiter greifendem Gebot der filmischen Weltbildung, indem sie Geschichten auf begrenztem Raum spielen lassen. Gewiss, neu ist die Idee eines Kino-Kammerspiels nicht, doch sie erlebt in jüngeren Jahren eine zahlreiche Kleinode sprießen lassende Renaissance – und mit Steven Knights «No Turning Back» hat exakt diese Renaissance einen neuen Klassenprimus gefunden.

Der Brite, der unter anderem die Drehbücher zu «Tödliche Versprechen – Eastern Promises» und «Kleine schmutzige Tricks» verfasst hat, lässt in diesem fesselnden Drama einen Familienvater ganz zeitgemäß mittels Freisprechanlage zahlreiche Notlagen in Angriff nehmen. Diesem modernen Aspekt steht die Zeitlosigkeit des bitteren Konflikts gegenüber, dem sich der von Tom Hardy («The Dark Knight Rises») verkörperte Protagonist stellen muss: Es geht um das ewig währende Dilemma zwischen selbstauferlegtem Stolz und widrigen Umständen, dem eigenen Verhaltenskodex und den Erwartungen des persönlichen Umfelds. Anders als Kammerspiel-Thriller wie «Buried – Lebend begraben», «Grand Piano» oder «Nicht auflegen!» verzichtet «No Turning Back» aber darauf, seine Hauptfigur um Leben und Tod kämpfen zu lassen – doch auch ohne dieses dringende Spannungselement weiß Steven Knights außergewöhnliches Thriller-Drama zu fesseln. Denn die reduzierte Erzählweise, die geschliffenen Dialoge und Tom Hardys berührendes, eindringliches Spiel ergänzen sich hier zu einem ausgefeilten Gesamtwerk, das die gesamte emotionale Wucht einer verfahrenen Zwickmühle einfängt.

Zu Beginn dieser geerdeten Tour de Force steht der Zuschauer noch vor zahlreichen Leerstellen: Der Bauingenieur Ivan Locke (Tom Hardy, der einzige Schauspieler, dessen Antlitz in diesem Film zu sehen ist, alle anderen Akteure sind nur zu hören) steigt spätabends in seinen BMW. Sein Ziel: Das rund 120 Minuten entfernte London, wo er eine dringliche Sache zu erledigen hat. Zur gleichen Zeit erwarten ihn seine Söhne und seine ihn liebende Ehefrau in Birmingham, um gemeinsam ein wichtiges Fußballspiel zu schauen und es sich bei Würstchen und Bier gut gehen zu lassen. Darüber hinaus sind seine Arbeitskollegen und sein Vorgesetzter über sein abruptes Verschwinden erbost, immerhin ist für den kommenden Morgen der Beginn eines historischen Bauprojekts geplant, bei dem auf Lockes Expertise nicht verzichtet werden kann. Nach und nach lenkt Steven Knights Drehbuch den Fokus auf diverse Fragen, die es daraufhin sukzessive beantwortet: Was treibt diesen ebenso jovial wie determiniert wirkenden Mann dazu, all dies für eine Fahrt gen London hinter sich zu lassen? Und wie reagieren seine Mitmenschen auf seine Versuche, alle Baustellen (sprichwörtlicher wie wortwörtlicher Natur) in seinem Leben übers Telefon zu meistern? Doch die bedeutendste Frage ist: Was machen die Reaktionen seines Umfelds mit dem stoischen Locke, der mit geübter Gelassenheit immer wieder beschwört, schon noch all seinen Verantwortungen gerecht zu werden?

Oberflächlich mag der Verdacht nahe liegen, dass «No Turning Back» allein eine konzeptuelle Fingerübung des «Redemption – Stunde der Vergeltung»-Regisseurs darstellt: Ein Mann, ein fahrender, beengter Schauplatz und Dialoge, die lediglich via Telefon stattfinden. Dieses minimalistische Gewand ist allerdings mehr als ein bloßes Gimmick – es ist die denkbar effektivste Erzählform für Ivan Lockes fundamental missliche Situation. Er muss verschiedene Aufgaben an mehreren Orten bewältigen, und beschließt daher, seine alltäglichen Pflichten am Arbeitsplatz und im Familienheim zumindest physisch hinter sich zu lassen, um sich in London vor Ort um eine bislang vernachlässigte Obliegenheit zu kümmern. Aber nur, weil sich Locke körperlich nicht teilen kann, sieht er nicht ein, seine Aufmerksamkeit zu teilen – dank des Wunders der Telekommunikation hat er die Möglichkeit, dessen ungeachtet in Kontakt mit seiner geliebten Gattin und seinen Söhnen zu bleiben sowie einen Mitarbeiter durch die noch zu erledigenden Tagespunkte für das anstehende Rekord-Bauprojekt zu lotsen. Locke tanzt, ganz allein und dann eben doch in ständiger Verbindung mit der Welt außerhalb seines Autos, auf mehreren Hochzeiten zugleich, während er gleichmütig einem neuen Horizont entgegensteuert.

Allein schon das Grundkonzept ermöglicht Steven Knight, mit «No Turning Back» eine lebensnahe, nachvollziehbare Story zu erzählen und zugleich eine kunstvoll zugespitzte Parabel zu skizzieren. Dass Locke mit einer Reihe von Telefonaten in kürzester Zeit sein ganzes Leben auf den Kopf stellt ist wahrlich nicht an den Haaren herbeigezogen, gleichwohl ist diese Situation symbolisch aufgeladen. Selbst der Umstand, dass John Locke am Bau arbeitet, ist kein Zufall. Denn Locke ist somit in einer Branche tätig, die es sich zum Ziel setzt, allen Widrigkeiten trotzende Bauten zu errichten, weshalb jeder unnötige Kompromiss fatale Folgen haben kann. Steven Knight überstrapaziert seine Metaphern jedoch nicht, sondern nutzt sie lediglich als geistreiche, für Nachhaltigkeit sorgende Unterstützung des zentralen Charakterdramas. Und dieses ist bei aller Reduktion von einer unvergleichlichen Intensität.

Dies liegt sowohl in Steven Knights bemerkenswertem Drehbuch begründet als auch im brillanten Spiel Tom Hardys. Der 36-jährige Londoner, der sich bereits mit dem oft übersehenen Psychodrama «Bronson» in den Darstellerolymp spielte, übertrifft sich in seiner Rolle des scheinbar unerschütterlichen Ivan Locke selbst. Ganz gleich, ob er einem Mantra gleich kühl wiederholt, dass der Verkehr ganz gut aussieht und er daher problemlos in London ankommen wird, er seinen Frust runter schluckt und seinen überforderten Arbeitskollegen erläutert, was zu tun ist, oder er nonchalant seine Frau zu beruhigen versucht: Hardy verleiht Locke eine zunächst vorbildlich erscheinende Gelassenheit, der aber etwas Erzwungenes beiwohnt. Woher diese Ader Lockes herrührt, zeigt Hardy in packenden Einzelmomenten auf, in denen sich der Bauingenieur mit bestimmtem Tonfall vorstellt, wie er seinem verstorbenen Vater sein Handeln erläutert. Würden diese Szenen in einem schwächeren Film Locke als verrückt markieren, weiß «No Turning Back», diese gedankenverlorenen Selbstgespräche in einen alltäglichen, dennoch mitreißenden Kontext zu setzen – was für Steven Knights versierte Inszenierung spricht.

Generell holt Knight audiovisuell das Beste aus seinem minimalistischen Konzept. Die nächtlichen Lichter rund um die von Locke gewählte Schnellstraße verschwimmen zu einem hypnotischen Meer gedämpfter Farben und mittels behutsamer Schnittarbeit wechselt Knight beim Blick auf Hardys formidables Spiel fließend zwischen naher und leicht distanzierter Beobachterposition. Untermalt werden die stimmigen Bilder von einer atmosphärischen Musik aus der Feder des Komponisten Dickon Hinchliffe («Auge um Auge»), die die Stimmung einer alles verändernden, Nachtfahrt unaufdringlich abrundet.

Fazit: «No Turning Back» zeigt das mimische Chamäleon Tom Hardy in seiner besten Rolle. Der britische Mime verwandelt diese One-Man-Show in ein ebenso berührendes wie fesselndes Kammerstück über einen Mann, der allein mit seinem Willen und einem Telefon bewaffnet sein Leben in die rechte Bahn zu manövrieren versucht. Lebensecht, packend und einzigartig!

«No Turning Back» ist ab dem 19. Juni in ausgewählten Kinos zu sehen.
17.06.2014 11:25 Uhr Kurz-URL: qmde.de/71333
Sidney Schering

super
schade


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