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Der Fernsehfriedhof: Die Show ohne Namen

Christian Richter erinnert an all die Fernsehformate, die längst im Schleier der Vergessenheit untergegangen sind. Folge 277: Eine skandalträchtige Gameshow, die im Verdacht stand, antisemitische Feindseligkeiten zu provozieren.

Liebe Fernsehgemeinde, heute gedenken wir des Beweises dafür, dass bloße Aufmerksamkeit kein Erfolgsrezept ist.

«Judas Game» wurde am 05. Februar 2004 auf Kabel eins geboren und entstand zu einer Zeit, als sich der Kanal langsam seines Retro-Images entledigen wollte. Damit hatte man in der Vergangenheit zwar hohe Sehbeteiligungen erzielen können, mittlerweile nahm die anfängliche Begeisterung für alte Serien, Filmklassiker und neuaufgelegte Kultshows merklich ab. Zudem sprach diese Strategie ein im Durchschnitt zu altes Publikum an. Aus Sicht der Senderverantwortlichen bestand somit ein dringender Verjüngungs- und Innovationszwang, der sich neben neuen Reality-Dokus auch in einem originellen Showkonzept niederschlagen sollte. Dabei setzte man auf eine Idee des Produktionsunternehmens Endemol, die bereits in den Niederlanden mit Begeisterung aufgenommen wurde. Wie schon bei vielen seiner früheren Programme wie «Big Brother», «Fear Factor», «House of Love», «Hausfieber», «Rache ist süß» und «Geld für Dein Leben» setzte Endemol erneut auf gezielte Grenzüberschreitungen und Tabubrüche.

In jeder Ausgabe der einstündigen Gameshow traten sechs Kandidaten im Kampf um 40.000 Euro gegeneinander an. Dazu präsentierten alle Teilnehmer ihre emotionalen und tragischen Geschichten, denn die Aufgabe bestand darin, seine Gegenspieler davon zu überzeugen, dass man selbst das Geld am meisten verdient hatte. Auf diese Weise wirkte es, als ob die Erzählungen über Unfallverletzte, Krebspatienten, Landminenopfer, obdachlose Waisenkinder und Menschen mit Down-Syndrom wetteiferten, welches Leid das tragischste war. Tatsächlich ging es aber weniger darum, sondern wer seine Geschichte am überzeugendsten darbieten konnte. Unter den Beteiligten befand sich nämlich stets mindestens ein Lügner – der „Judas“ – dessen Story frei erfunden war. Diese Betrüger galt es schließlich zu entlarven.

Nach jeder Runde, in der die Geschichten durch gegenseitiges Befragen geprüft werden konnten, wurde eine Person von der Gruppe per Mehrheitswahl herausgewählt, bis im Finale nur noch zwei Menschen übrig blieben. Zuvor war es zudem möglich, sich in einem schalldichten Raum separat zu verhören, beraten oder zu verschwören. Die beiden letzten Duellanten mussten sich dann unabhängig voneinander entscheiden, ob sie das Preisgeld miteinander teilen oder es allein gewinnen wollten. Willigten beide in eine Aufteilung ein, erhielt jeder 20.000 Euro. Fiel das Votum unterschiedlich aus, erhielt nur der Egoistische das Geld. Es war also ratsam mit jemandem in die Endrunde einzuziehen, der vertrauenswürdig war.

Wie wahrscheinlich beabsichtigt, sah sich das Format bereits vor seiner Erstaufführung mit zahlreichen Beschwerden konfrontiert. Dazu gehörte sowohl der Vorwurf, dass tragische Unglücke für Unterhaltungszwecke instrumentalisiert wurden, als auch das moralisch fragwürdige Prinzip, bei dem skrupellose Unehrlichkeit belohnt wurde. Die lautstärksten Widerstände löste hingegen der geplante Titel der Reihe sowie die Verwendung des Wortes „Judas“ aus. Insbesondere der Zentralrat der Juden bezeichnete diese Wahl als „instinktlos“, weil sie eine „akute Gefahr verbaler Brandstiftung“ in sich barg. „Der Titel «Judas Game» assoziiert für geschichtsbewusste Menschen ‚Judas verrekke!’ Letztere Wortwendung war der Schlachtruf des Stürmers und gehörte damit zum Rufton auf deutschen Strassen während des nationalsozialistischen Verfolgungsterrors“, ärgerte sich die damalige Vizepräsidentin Charlotte Knobloch öffentlich.

Kurz darauf schaltete sich die zuständige bayerische Landeszentrale für neue Medien (BLM) ein und prüfte das Programm. Sie ließ zwar die Ausstrahlung der vorproduzierten Ausgaben zu, verbot jedoch wegen „Verletzung religiöser Gefühle und der Provokation antisemitischer Ressentiments" nur wenige Stunden vor dem Sendetermin die Benutzung des umstrittenen Titels. Kabel eins war dementsprechend gezwungen, die erste Ausgabe notdürftig umzugestalten. So wurden alle Titeleinblendungen provisorisch verpixelt und die Nennungen des verbotenen Begriffs durch den Off-Sprecher mit einem unverständlichen Genuschel ersetzt. Ein ähnliches Prozedere war im Jahr 1999 bereits bei «Gute Nachbarn, Schlechte Nachbarn» in Sat.1 nötig geworden. Einzig die Gespräche der Kandidaten konnten in der Kürze der Zeit nicht mehr angepasst werden, sodass diese weiter von der Entlarvung des „Judas“ sprachen.

Obwohl dies auf eine andere Weise erfolgte, als ursprünglich geplant, hatte das neue Projekt einen erheblichen Skandal verursacht und die gewünschte Aufmerksamkeit provoziert. Trotzdem blieb das Interesse der Fernsehzuschauer dürftig, denn den Auftakt schalteten im Schnitt lediglich 0,82 Millionen Menschen ein. Angesichts eines Zielgruppen-Marktanteils von 3,6 Prozent gelang es folglich nicht, den allgemeinen Aufschrei in gute Quoten umzuwandeln.

Der Grund dafür könnte darin gelegen haben, dass die Show selbst – abseits dieser gewollten und durchschaubaren Effekthascherei – vor allem durch ihre mangelhafte Umsetzung wenig unterhaltsam war. Die Abwesendheit eines Moderators, das Fehlen von Studiopublikum, eine sterile Set-Gestaltung, unauthentisch agierende Kandidaten und übertrieben aufgebauschte Leidensgeschichten raubten dem Resultat jede Spannung. Der unentwegt benutzte Werbespruch „so spannend wie ein Psychothriller“ wirkte angesichts des tatsächlichen Ergebnisses wie blanke Ironie.

Entsprechend verhalten fielen die zugehörigen Pressestimmen aus, die sich mit wortreichen Verrissen gegenseitig überboten. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bezeichnete das Ergebnis beispielsweise als „ungefähr so fesselnd wie ein gähnend langweiliger Gesellschaftsabend, an dem sich die eingeladenen Paare aber auch gar nichts mehr zu sagen haben und deswegen die alten Spieleklassiker wie "Tabu" aus dem Schrank graben.“ In der Berliner Zeitung war indessen zu lesen: „Man ist mehr gelangweilt als empört“, während für Spiegel Online das Interessanteste an der Premiere war, „wann und wie der Sender den Titel doch verraten würde und nicht etwa die Frage, welcher Kandidat da wen verraten würde.“

Damit war der ursprüngliche Hoffnungsträger gescheitert, der den angestrebten Imagewechsel schon dadurch einläuten sollte, das er den ursprünglichen Platz des Retro-Ratespiels «Was bin ich?» übernahm. Trotzdem hielten die Programmplaner vorerst an der Produktion fest und gaben ihr ab der zweiten Ausgabe den neuen Namen «J-Game», bei dem sich ohne Kenntnis der Vorgeschichte aber nicht erschloss, wofür das „J“ stehen würde. „Nehmen Sie es doch einfach als Abkürzung für Joy", scherzte Petra Fink, die Sprecherin von Kabel eins, zu diesem Zeitpunkt noch. Den Reichweiten vermochte dieser Schritt nicht mehr zu helfen, sodass die Sendung nach dem dritten Ausfall ihre ursprüngliche Heimat am Donnerstagabend räumen musste und die verbliebenen, bereits fertiggestellten Episoden am Samstagvorabend versteckt wurden.

«J-Game» wurde am 13. März 2004 beerdigt und erreichte ein Alter von sechs Folgen. Die Show hinterließ lediglich einen verwaisten Timeslot, den mit „Opas letzter Wille“, in dem das Erbe eines noch lebenden Großvaters unter der gierigen Verwandtschaft aufgeteilt wurde, ein ebenso fragwürdiges Format beerbte.

Möge die Show in Frieden ruhen!

Die nächste Ausgabe des Fernsehfriedhofs erscheint am kommenden Donnerstag und widmet sich dann einem der ersten Projekte von «Stromberg»-Autor Ralf Husmann.

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27.02.2014 11:24 Uhr Kurz-URL: qmde.de/69273
Christian Richter

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