So manche Schlagzeile macht «Nymphomaniac» zum Kunstporno. Dabei ist es eher eine Tragikomödie, in der es halt Sex zu sehen gibt.
Porno-Drama, Kunstporno, Kunstdrama mit Porno-Elementen – Porno, Porno, nichts als Porno: Interessierte Kinobesucher, die sich im Internet über «Nymphomaniac» informieren, müssen sich nicht gerade bemühen, um im Zusammenhang mit diesem Film über das P-Wort zu stolpern. Dabei betonen die Darsteller aus Lars von Triers hierzulande am 20. Februar gestartete Regiearbeit konstant, dass der dänische Kunstfilm zwar einiges sei – aber keine Pornografie. Trotzdem dürfte es schwer fallen, einem großen Publikum eben dies zu vermitteln: Eine Kinoproduktion, die von Sex handelt und weder in den Dialogen, noch in der Bildsprache scheu ist, wird nun einmal von vielen Menschen ohne großes Zaudern in die Schmuddelecke gesteckt. Egal, wie unberechtigt dies auch sein mag.
Allerdings ist Lars von Trier nicht irgendein dahergelaufener Emporkömmling und anders als zahlreiche bisherige Non-Pornos mit grafischen Sexszenen ist «Nymphomaniac» weder eine handwerkliche Fingerübung noch ein kalkulierter Tabubruch. Sex und Nacktheit sind in «Nymphomaniac» stattdessen unerlässliche Mittel, um die zentrale Handlung wirkungsvoll zu erzählen – wie lächerlich wäre wohl die Geschichte einer Sexsüchtigen, würde sie handzahm und züchtig erzählt? Gewiss macht die bloße inhaltliche Rechtfertigung von Sexszenen allein noch keinen hervorragenden Film. Gleichermaßen wird ein starkes Charakterstück aber nicht zum Schmuddelfilm, bloß weil es voll mit sexuellen Inhalten ist. Lars von Triers «Nymphomaniac» ist, egal in welcher Schnittfassung, wohl eines der gelungensten Beispiele dafür. Schließlich stellt der Abschluss seiner „Depressionstrilogie“ einen der klügsten und (zumindest in der aktuell in den Lichtspielhäusern gezeigten ersten Hälfte) unerwarteterweise vergnüglichsten Filme der vergangenen Kinomonate dar.
Ein wichtiger Aspekt des Zweiteilers, der ihn von vielen anderen Sexdramen abhebt, ist der Tonfall zwischen den sexuellen Eskapaden: Von Trier, der mit den Projekten «Antichrist», «Melancholia» und «Nymphomaniac» angeblich seine Depression verarbeitete, bettet in «Nymphomaniac» den Rückblick auf die Lebensgeschichte der Hauptfigur Joe in feinster „1001 Nacht“- oder „Dekameron“-Manier in eine Rahmengeschichte. Diese handelt davon, wie die schwer verletzte Joe (hier und in Rückblicken auf ihre zweite Lebenshälfte: Charlotte Gainsbourg) vom älteren Junggesellen Seligman (Stellan Skarsgård) in einer dunklen Gasse aufgelesen wird. Der gutmütige, wissbegierige Herr fragt Joe, ob er die Polizei oder einen Notarzt rufen soll, was diese jedoch verneint. Also lädt er sie in seine karge Wohnung ein, damit sie sich dort erholen kann. Von Neugier geplagt, bittet Seligman seinen angeschlagenen Gast aber, ihm wenigstens zu erläutern, was ihr widerfahren ist. Joe holt daraufhin weit aus und berichtet ihrem Retter von ihrem gesamten sexuellen Werdegang. Will sie sich ihr Leid von der Seele reden? Will sie prahlen? Den verkopften Seligman auf ihr aufregendes Leben neidisch machen? Oder kennt sie einfach keinen anderen Weg, als sich für Freundlichkeit mit sexuellen Gefälligkeiten zu bedanken – nur in diesem Fall halt mit sexuell expliziten Geschichten statt mit körperlichen Diensten?
Von Trier nutzt diese Rahmenhandlung einerseits, um jene Zuschauer durch den Kakao zu ziehen, die in jedes noch so beliebige Detail etwas hineindeuten. So erkennt Seligman aus einer von Joe erwähnten Zahlenfolge fröhlich dreinblickend die Fibonacci-Folge, was ihn zu einem kleinen Exkurs verleitet – selbst wenn die Erkenntnis, dass Joe in ihrer Erzählung zufällig Fibonacci-Zahlen erwähnt, keine tiefgehende Bedeutung hat oder ihrer Lebensbeichte eine neue Perspektive verleiht. So geht es regelmäßig weiter und mehrfach haben die Unterhaltungen Joes und Seligmans auch Einfluss auf Musikwahl und visuelle Umsetzung der Rückblicke auf die Sexabenteuer der jungen Joe (Stacy Martin), teils zu sehr amüsanten Ergebnissen. Gleichzeitig sorgt die Rahmenhandlung andererseits für eine zusätzliche, dramatische Distanz des Kinogängers zum Erzählten: Wenn die junge Joe auf dem (man verzeihe diesen Wortwitz) Höhepunkt ihrer ganz eigenen sexuellen Revolution ist, entzieht von Trier den dazugehörigen Bildern ihre Erotik, indem er den Zuschauer daran erinnert, wo Joe Jahre später noch landen wird.
Und dadurch, dass der gezeigte Sex in «Nymphomaniac» weder erregt, noch erzürnt, ist mehr Raum dazu da, die Unterschiede zwischen Joes zahlreichen körperlichen Erfahrungen zu erkunden. Der Sex funktioniert als Spiegelbild ihrer Befindlichkeit, und was in anderen Filmen haarscharf an der Pornografie vorbeischrammt, ist hier ein kunstvolles Zusammenspiel aus Charakterdarstellung und gelungener Inszenierung.
Zugegeben: Das passt in keine Überschrift. Und so wird «Nymphomaniac» wohl weiter mit den ganzen Porno-Schlagzeilen leben müssen. Schade wäre es nur, wenn dieses Drama (Teil eins ist sogar eher eine Tragikomödie) dadurch einige Zuschauer nicht erreicht, die sich eigentlich sehr wohl für den Film erwärmen würden – wüssten sie, worum es sich bei dieser Produktion tatsächlich handelt.