Die Extremaufnahme einer Vagina – so nah, wären wir noch näher an ihr dran, so würden wir sie zwangsweise penetrieren. Ein uns nicht minder nahes Auge öffnet sich, seine Pupille fokussiert sich neu. Eine uns abgewandte Frau pfeffert einen Molotowcocktail gegen ein Auto. Währenddessen stampfen harte Gitarrenriffs voran. Ein klareres Statement könnte der Trailer zu «Nymphomaniac» in seinen ersten vier Sekunden kaum machen. Und dennoch lässt er lüsterne Blicke, unschuldig-naive wie auch verzweifelt-trockene Angebote zum Beischlaf, die Fremdverurteilung einer Hilfe suchenden Nymphomanin („Sexsüchtige! Wir sagen Sexsüchtige!“), Prostitution, lesbische Küsse, Sadomasochismus, Tränen, aus einem Mund sprudelndes Sperma, Blowjobs, Nippellecken, einen Tropfen Vaginalsekret, Hobbyphilosophie und Blut folgen, ehe Lars von Trier zu den martialischen Klängen ins Finale des Trailers marschiert.
Kurzum: Der erste Trailer zum schon jetzt massiv diskutierten, in epischer Bandbreite erzählten Sexdrama «Nymphomaniac» macht wahrlich keine halben Sachen, sondern stopft in weniger als zwei Minuten Laufzeit alles hinein, was von einem solchen Unternehmen erwartet werden könnte. Sinnlichkeit, bedeutungslosen Sex, Fetische, Manie, Wut, Harmonie, Trauer, Scham, Provokation, Gewalt, Wahnsinn. Innerhalb von einer Minute und 55 Sekunden schwingt diese Filmvorschau von aggressiver Offenheit zu Tragik und Melancholie, rüber zu kunstvoll-ehrlicher Derbheit. Darauf folgt ein Crescendo aus Fragmenten von verschiedenen Facetten der Sexualität und abschließend bricht wieder eine fast schon selbstgefällig-augenzwinkernde Freude darüber an, wie unverblümt der «Nymphomaniac» sein noch immer provokantes Thema anpackt. Kurzum: Es ist ein Trailer, den man gesehen haben muss. Vorausgesetzt, man verfügt über die notwendige Altersreife:
Aufgrund der Kompromisslosigkeit, mit der Lars von Trier in seinen Filmen draufhält, wurde «Nymphomaniac» schon seit seiner Ankündigung heftig diskutiert. Und mit der in den vergangenen Monaten endlos besprochenen Ankündigung, dass die Sexszenen dieses Dramas auch explizite Details beinhalten werden, weshalb der dänische Regisseur teilweise mit Pornodarstellern drehte, haben die Debatte rund um dieses Werk nur weiter angefeuert: Kann das noch Kunst werden? Oder erwartet uns im besten Fall bloß reine Provokation, und im schlimmsten Fall ein als Pseudo-Kunst getarnter Porno, der so deprimierend ist, dass man unmöglich dazu masturbieren könnte?
Ich muss gestehen, dass ich bislang sämtliche «Nymphomaniac»-Meldungen zwar mit Interesse verfolgt habe (schließlich handelt es sich um das neuste Werk des ambitionierten, begabten Lars von Trier, für das er sogar ein ansehnliches Ensemble zusammenstellen konnte), doch nie völlig überzeugt war. Zu selbstverliebt und unkonzentriert-ausufernd erschien mir die Vorstellung eines vier bis fünfeinhalbstündigen Dramas mit exzessiven Sexszenen. Was kann ein Film über Nymphomanie schon aussagen, dass er sich solch eine Laufzeit verdient hat?
Nun aber muss ich sagen, dass dieser Trailer tatsächlich seinen Zweck erfüllt und mir Vertrauen darin schenkte, dass «Nymphomaniac» etwas zu sagen hat. Wenn der Film die tonale Bandbreite dieses Trailers ausbaut, so wird er auch über eine überwältigende Laufzeit verfügen müssen, wenn er sein Facettenreichtum fundiert ausspielen möchte. Wie alltäglich, traurig, verrückt, verspielt, deprimierend, erschreckend, erfreulich, sinnlich oder beschämend Sex sein kann, lässt sich schwer in eine einzelne Geschichte über das abenteuerliche Leben einer scheinbar normalen Frau packen, ohne dass der Film in die Tiefe geht (Wortspiel beabsichtigt?). Und auch die explizite Darstellung von Sex ist da nur konsequent: Wenn von Trier schon dermaßen genau auf die Bedeutung der menschlichen Sexualität blickt, kann er unmöglich immer wegschneiden, sobald etwas pikantes geschieht. Ob sich die Unterschiede zwischen all den Formen von Sex und all den psychischen Lagen, in denen sich jemand beim Akt befinden kann, nur dargestellt werden können, indem unsimuliertes Bildmaterial gezeigt wird, das lässt sich gewiss noch diskutieren. Klar ist für mich nun trotzdem, dass hinter «Nymphomaniac» eine sehenswerte Absicht und Aussage steckt.
Somit stünde dieses Kunststück etwa über «9 Songs», eine andere Produktion, in der realer Sex zu sehen ist. Diese 2004 entstandene britische Regiearbeit von Michael Winterbottom handelt von zwei Jugendlichen, die sich bei einem Rockkonzert kennenlernen und nach diesem Konzert miteinander schlafen – woraus sich eine Sexfreundschaft entwickelt, die acht weitere „Erst Konzertbesuch, dann Sex“-Abende umfasst. Die Sexszenen sind dabei in mehrfachem Sinne realistisch: Zunächst sind weder von einer cineastischen, noch einer pornographischen Ästhetik, sondern ungeschliffen, alltäglich. Zudem sind sie explizit und zeigen sowohl in Nahaufnahme die Geschlechtsorgane der (Laien-)Darsteller als auch Penetration und Ejakulation – während ersteres auch gelegentlich in Mainstreamfilmen zu sehen ist, sind die beiden weiteren Aspekte üblicherweise der Pornographie vorbehalten. Selbst Softcore-Filme scheuen vor solchen Bildern. Dieser Kritiker spaltende Film ist (abhängig davon, wen man fragt) entweder eine löblich-unprätentiöse Schilderung sexueller Realität oder ein inhaltsloser Mix aus Konzertfilm und unerotischen Geschlechtsakten – dass er explizit unsimulierten Sex zeigt, ist aber gezieltes Ausgrenzen medialer Grenzen. Regisseur Michael Winterbotom gab nämlich zu, dass er den Film bloß drehte, um zu ergründen, wie weit er gehen kann, ohne sein Werk aufgrund eines Einspruchs der Kino-Zensoren kürzen zu müssen.
Offenbar kam er sehr weit: «9 Songs» erhielt zwar im Vereinigten Königreich eine Jugendfreigabe ab 18 Jahren, lief aber in Mainstream-Kinos. In Deutschland bekam der Film gar eine FSK-Freigabe ab 16 Jahren. Ganz so einfach wird es «Nymphomaniac» vermutlich nicht haben, da von Trier gewiss provokanter, frecher, derber vorgehen wird als Winterbottom. Aber zumindest steht ebenso zu erwarten, dass «Nymphomaniac» gleichzeitig auch gehaltvoller als «9 Songs» wird.