Das Angenehme am Dortmunder «Tatort» ist seine Unaffektiertheit. Denn unprätentiöse Töne haben sich am Sonntagabend im Ersten rar gemacht. Eine Rezension von Julian Miller.
Hinter den Kulissen
- Produktion: Colonia Media Filmproduktion GmbH
- Drehbuch: Jürgen Werner
- Regie: Andreas Herzog
- Kamera: Ralf Noack
- Produzentin: Sonja Goslicki
Inhalt
Die 16-jährige Gymnasiastin Nadine Petzokat wird tot aus dem Phoenixsee gezogen. Das Opfer ist ertrunken, es gibt aber auch Anzeichen von Gewalteinwirkung. Sie scheint vor ihrem Tod vergewaltigt worden zu sein. Die Tote ist auffällig teuer gekleidet, was - wie sich herausstellt - nicht zu ihrem sozialen Hintergrund passt, da sie aus einfachen Verhältnissen stammt. Außerdem herrschen in der Familie von Nadine Spannungen; Martina Bönisch erfährt von Nadines Mutter Karin Petzokat, dass sie seit langem ihr eigenes Leben führte und versuchte, sich von ihrer Herkunft abzugrenzen. Nadines beste Freundin Julia Nowak erzählt den Ermittlern, dass die beiden in der Nacht vor der Tat in einem noblen Club mit Freunden Geburtstag gefeiert haben Nadine blieb noch, als Julia nach Hause ging. Jonas Zander stellt bei der Obduktion fest, dass zwischen der Vergewaltigung und dem Eintreten des Todes rund zwei Stunden liegen. Waren es vielleicht zwei Täter?
Derweil sichten die Ermittler Nadines Handy-Videos. Die Filme werfen ein Schlaglicht auf die Freundschaft der beiden Mädchen, deren Träume und deren Suche nach Identität. Auch führen sie die Ermittler zu der betuchten Clique, die an dem Abend im Club Century feierte: Staatsanwaltssohn Lars von Hesseling, Clubbesitzer Konstantin Prinz, Meike Götz, Oliver Pösko und Stefanie Katschek.
Im Laufe weiterer Ermittlungen gerät auch der vorbestrafte Exfreund Tarek Abboubi ins Visier der Kommissare. Nadine hatte mit Tarek Schluss gemacht. Könnte es sich um einen Racheakt handeln? Auch Konstantin König bestätigt, dass es noch an dem Abend Ärger mit Tarek gegeben hat. Nun mischt sich Nadines Vater Heinz Petzokat in die Ermittlungen ein. Sie war sein Ein und Alles. Noch in der Nacht hatte er seltsamerweise ein Foto seiner aufgestylten Tochter auf sein Handy gesandt bekommen und sie daraufhin mehrmals erfolglos versucht zu erreichen. Das Überwachungsvideo des Clubs zeigt, dass Petzokat im Auto später in jener Nacht dort stundenlang auf sie wartete. Dann schlägt Petzokat Tarek auch noch krankenhausreif. Nora befragt derweil undercover die Freunde im Club, um mehr herauszufinden. Liegt die Lösung des Falls in den Beziehungen der Freunde untereinander?
Darsteller
Jörg Hartmann («Weissensee») als Peter Faber
Anna Schudt («Alles was recht ist») als Martina Bönisch
Aylin Tezel («Almanya – Willkommen in Deutschland») als Nora Dalay
Stefan Konarske («Same Same But Different») als Daniel Kossik
Thomas Arnold («Allein gegen die Zeit») als Jonas Zander
Robert Schupp («Die Stein») als Hauptkommissar Krüger
Hassan Akkouch («Neukölln Unlimited») als Tarek Abboubi
Kritik
Das Tolle am Dortmunder «Tatort» ist das Unprätentiöse.
Während man anderswo entweder gezwungen jung oder gezwungen altmodisch (oder freundlicher formuliert: nostalgisch) sein will und das Resultat dann zumeist nach durchgeplanter Anbiederung aussieht, scheint in Dortmund wirklich die Stimmigkeit im Zentrum zu stehen. Der Plot macht Sinn, die Figuren machen Sinn und das Ergebnis ist, Achtung: Buzzword, authentisch.
Es geht wieder in den sozialen Brennpunkt. Mordopfer Nadine wollte „raus aus der Scheiße hier“, wie ihr Vater den Polizisten sagt. Es entspinnt sich ein Panoptikum gesellschaftlicher Friktionen. Wenn Oberschicht auf Unterschicht trifft, knallt es in «Tatorten» ja gerne. Aber auch hier findet man in Dortmund eine andere, stimmigere Lösung. Das Drama um den Versuch des sozialen Aufstiegs einer Teenagerin, die sich mit ihrer räumlichen wie sozialen Umgebung nicht (mehr) identifizieren kann, ist hier der (unprätentiöse) Hintergrund, und eben nicht der Vorwand, um den Punkt Sozialkritik von der How-to-make-a-Tatort-Liste zu streichen. Authentisch wird es eben nur, wenn sich die Themen aus der dramatischen Situation ergeben – nicht, wenn sie ihr übergestülpt werden. In nahezu allen anderen «Tatort»-Metropolen, von Berlin über Ludwigshafen bis nach München, sollte man sich daran dringend ein Beispiel nehmen.
Aber es ist nicht nur die zweite Ebene, die in Dortmund so viel besser gelingt als fast überall sonst. Es ist vor allem auch die Haltung zu den Figuren und zum Setting. Noras und Daniels Dialoge kommen ohne aufgesetzten Unter-40-Sprech aus, ohne gewollt keckes Gefasel, ohne gezwungene Albernheiten. Wenn Jörg Hartmann als Peter Faber im Tobsuchtsanfall die Toilettenräume auseinandernimmt, nimmt man ihm das ab. Wenn er seiner Kollegin an die Gurgel geht, um die Tötungssituation nachzustellen, ist man sich sicher, dass der Mann nicht alle Tassen im Schrank hat. Aber man nimmt es ihm ab. Weil es authentisch ist. Weil diese Figuren es nicht nötig haben, sich aufgesetzte One-Liner in den Mund legen zu lassen, in der Hoffnung, damit zumindest auf ein Minimum an Individualität zu kommen. Weil es eben auch anders geht: nahbarer, authentischer, natürlicher, und nicht am Reißbrett nach Zielgruppenaffinität durchgeplant.
Hinzu kommt, dass sich die Glücksgriffe beim Cast nach wie vor bezahlt machen. Jörg Hartmanns und Anna Schudts Spiel kann man in seinen besten Momenten ohne zu übertreiben als Tour-de-Force bezeichnen, während Aylin Tezel und Stefan Konarske das jüngere «Tatort»-Duo weiterhin glaubhaft und unaffektiert verkörpern. Unprätentiös eben. Wenn «Tatort» doch nur immer so wäre.
Das Erste zeigt «Tatort - Eine andere Welt» am Sonntag, den 17. November um 20.15 Uhr.