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360 Grad: Zulage!

Am Montag lief bei arte ein Highlight des Fernsehjahres: eine «Woyzeck»-Verfilmung. Klingt unspektakulär, war es aber nicht. Der Film zeigte, wie die moderne Verfilmung eines alten Stoffes vortrefflich gelingen kann.

Hinter den Kulissen

  • Produktion: Magic Flight Film GmbH
  • Drehbuch und Regie: David Nuran Calis (nach dem gleichnamigen Dramenfragment von Georg Büchner)
  • Darsteller: Tom Schilling als Woyzeck, Nora von Waldstätten als Marie, Simon Kirsch als Tambourmajor u.v.a.
  • Kamera: Björn Knechtel
  • Produzent: Christian Rohde
Wenn Theatermacher alte Stoffe in die Gegenwart versetzen wollen, um den Studienräten und Medienpädagogen im Publikum einen Aktualitätsbezug vorzuspielen, den es in dieser Banalität, wie ihn sich die Theatermacher denken, nicht gibt, endet das oft im Fiasko: Mephistopheles rappt, bei Hamlet wird es so schlüpfrig wie nachts bei Sport 1 nicht, und Dürrenmatts Güllen wird zum Mikrokosmos der Finanzkrise. Dem verständigen Zuschauer kommt das kalten Grausen, aber man hat ihn: den Skandal. Wenn nichts mehr geht, ist das Theater eben Skandalmaschine.

Ganz anders ist die Neuverfilmung von «Woyzeck», die arte am späten Montagabend zeigte.

Ja, dieser Woyzeck kommt aus der Gegenwart. Aus Berlin-Wedding, um genau zu sein, wo er mit seiner Marie und der gemeinsamen Tochter in einer beengten Ranzbude haust. Der Tambourmajor ist eine zwielichtige Kiezgröße mit Migrationshintergrund, der Hauptmann ein aufgedunsener muslimischer Restaurantbesitzer, der Doktor ein genauso gewissenloses Ekelpaket wie in Büchners Original und Andres ist der Arbeitskollege, der mit Woyzeck und einem weiteren degenerierten Kumpanen den Abfall in Berlins U-Bahnschächten aufsammelt. Die Gemeinsamkeit aller Figuren um Woyzeck und Marie ist ihre grenzenlose Widerwärtigkeit.

Regisseur und Drehbuchautor David Nuran Calis modernisierte behutsam, passte die Charaktere und Konflikte den derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnissen an, ohne den Zeigefinger zu heben, damit die Studienräte leichter ihre Stunden füllen und die Medienpädagogen ihre Arbeiten schreiben könnten, ohne großartig über den Stoff nachdenken zu müssen. Büchners Woyzeck ist für Calis nicht in erster Linie Lehrstück, sondern dramaturgische Ausgangslage, Werktreue nicht sein oberstes Gebot, sondern Wirkung. Eine Wirkung, die eine andere ist als die eines einhundertfünfzig Jahre alten Stückes.

An seinem «Woyzeck» ist vieles unfilmisch. Noch mehr als an Werner Herzogs Verfilmung mit Klaus Kinski in der Hauptrolle. Calis erzählt noch entschleunigter, noch deutlicher, noch präziser, noch fragiler, noch entrückter. Und es ist gerade dieses narrativ, aber vor allem ästhetisch Entrückte, das die Außenperspektive auf die gesellschaftlichen Zustände klar und doch komplex, eindeutig und doch vielschichtig werden lässt.

Der Kompromiss zwischen dem Modernen und der alten Vorlage ist in Calis' «Woyzeck» die Sprache: Aus dem erniedrigenden „Er“ des Hauptmanns wird ein schlichtes „Du“, Sätze, die heute gekünstelt klingen würden, werden weggelassen; aber das „g'funden“, die von Gunnar Teuber in der Theatersprache deklamierte „Aberratio mentalis partialis“ klingt immer noch mehr wie auf der Bühne als im Film gesprochen. Das ist jedoch kein Ausfluss von Schlamperei oder Unfähigkeit, sondern sorgt für das Entrückte, das Fremde, das man brauch, um diesen Woyzeck in unsere Gesellschaft zu bringen und ihn doch Woyzeck sein zu lassen.

Es gibt nur sehr wenige Verfilmungen von Theaterstücken, die unprätentiöser ausfallen als diese – noch dazu, wenn die Dramen einen Realitätsbezug erhalten sollen. Denn der wird in «Woyzeck» dem dramaturgischen Konstrukt nicht einfach übergestülpt, sondern entwickelt sich so dramaturgisch stringent, als hätte der Stoff noch kein Jahrzehnt auf dem Buckel. Ein anderer Woyzeck als der, den Büchner sich vorgestellt hat. Sicherlich. Aber ein Woyzeck, der weder Anachronismus ist noch zum Leerlaufkulturbetrieb degradiert wird.

Das ist nicht allein Calis zu verdanken, sondern ebenso Tom Schilling in der Hauptrolle und Nora von Waldstätten als Marie, die durch ihr intimes Spiel als großstädtisches Arbeiterduo das Entrückte fassbar machen und dadurch einem alten Stoff so viel Wirkung verleihen, wie man sich das kaum vorstellen konnte. Dieser Film war eines der Highlights des Fernsehfilmjahres.
Schade, dass er nur so versteckt ausgestrahlt wurde.

Noch für wenige Tage ist «Woyzeck» bei arte+7 zu finden.
18.10.2013 16:00 Uhr Kurz-URL: qmde.de/66787
Julian Miller

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360 Grad Woyzeck

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