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«Gravity»: Hilflos im Weltraum

Film des Monats: «Gravity» schickt sein Publikum auf eine nervenaufreibende, schwindelerregende und hochdramatische Weltraumodyssee: Zwei Astronauten taumeln nach einem Unglück durchs All – und der Zuschauer erlebt das Unheil hautnah mit. Ein Meisterwerk des Spannungskinos!

Die Herausforderung, die wir uns selbst gestellt haben, war, dass wir keine neue Welt erschaffen wollten. Unser Ziel für den Film war, ihn aussehen zu lassen wie eine dieser IMAX- oder Discovery-Channel-Dokumentationen – bloß dass dann absolut alles schief läuft.
Alfonso Cuarón über «Gravity»
Das Weltall war im Laufe der Kinogeschichte bereits Schauplatz mannigfaltiger Geschichten. Und unter anderem dank dem Meilenstein «Alien» mangelt es auch nicht an spannungsgeladenen Weltraumerzählungen. Aber so etwas wie «Gravity» gab es noch nie im Kino zu sehen. Alfonso Cuarón, der Regisseur von «Harry Potter und der Gefangene von Askaban» und «Y Tu Mamá También – Lust for Life», schuf mit dieser 80-Millionen-Dollar-Produktion eine Achterbahnfahrt des Schreckens. Und zugleich den wohl wissenschaftlich korrektesten Space-Thriller der Filmgeschichte.

Ihren Anfang nimmt Cuaróns perfekt orchestrierte Nervenfolter während eines Routineeinsatzes: Die Ingenieurin Dr. Ryan Stone (Sandra Bullock) absolviert unter der Leitung des altgedienten Astronauten Matt Kowalsky (charismatisch wie eh und je: George Clooney) ihren ersten Außeneinsatz im All. Während Kowalsky, der hiermit seine letzte Mission absolviert, voller Abschiedsschmerz und Ehrfurcht den majestätischen Ausblick auf die Erde genießt, soll Stone Reparaturarbeiten verrichten. Doch alles nimmt eine fatale Wende, als ein gesprengter Satellit auf sie zusteuert: Ihr Space Shuttle wird vom Weltraummüll zerstört, jeglicher Kontakt zur Erde geht verloren und mit ihm die Hoffnung auf Rettung. Stone und Kowalsky trudeln nun in ihren Raumanzügen durch die Tiefe des Weltraums, aufs Nichts zusteuernd. Und mit jeder Minute, die vergeht, sinken ihre Sauerstoffvorräte. Jede verzweifelte Idee, wie das Duo Rettung erlangen könnte, basiert auf nahezu unmöglich zu meisternden Leistungen. Ein ruhiger Kopf wäre angesagt, aber die Uhr tickt unaufhaltsam und der Weltraum ist ungeheuerlich tückisch …

Selten vermittelte ein Regisseur das Leid einer Filmfigur unmittelbarer als Alfonso Cuarón, der sein Publikum ohne größere Atempausen an Stones Horrortrip teilhaben lässt. Schon zu Beginn rücken Cuarón und Kameramann Emmanuel Lubezki den Zuschauer in die Rolle eines an dieser grauenvollen Odyssee teilnehmenden Raumfahrers, indem sie mehr als die ersten 15 Minuten des Films in einer konstanten, vermeintlich ungeschnittenen Kamerafahrt erzählen. Bevor das Unheil seinen Lauf nimmt, schwebt die Kamera (und somit das Publikum) gemeinsam mit Kowalsky um das Space Shuttle herum, die malerische Szenerie bestaunend. Zwischendurch schwenkt das Bild zu Stone rüber, um ihr bei ihren etwas unbeholfenen Arbeitsschritten über die Schulter zu schauen, und somit werden sofort Schönheit und Tücke der Schwerelosigkeit deutlich. Sobald der Weltraumschutt Stone vom Shuttle trennt, wirbelt die nah auf sie drauf haltende Kamera unkontrolliert herum, und je panischer Stone wird, umso unübersichtlicher und schwindelerregender gerät das Bild, das die Leinwand erfüllt.

Und selbst nach dem ersten Schnitt, der für einen Sekundenbruchteil Ruhe in den Film einbringt, bleibt Cuarón den Versprechen der ersten Minuten treu. Für wenige Augenblicke löst er den Zuschauer von der panischen Astronautin – doch der Regisseur tut dies nur, damit er mit erdrückenden Weltraumpanoramen daran erinnern kann, welch kleinen Fleck Stone in den unendlichen Weiten darstellt. Bald darauf verringert Cuarón wieder den Abstand zwischen Stone und der Kamera, zwischenzeitlich versetzt er das Publikum sogar in ihren Raumanzug. So geht es die gesamten 90 Filmminuten über: Wann immer die Kamera zu lange zu Stones Subjektive wurde, wann immer Stones Leid zu direkt gezeigt und das Geschehen zu nervenzerfetzend wird, lässt Cuarón kurz locker. Bloß um den erschreckend realistisch inszenierten Weltraumritt anschließend noch zermürbender zu gestalten.

Die effektive Schnittarbeit und die preiswürdige Kameraarbeit allein könnten diesen aufreibenden Thriller jedoch nicht tragen. Die größte Stütze von «Gravity» ist viel mehr Sandra Bullock. Die Oscar-Preisträgerin war zwar die Letzte in Cuaróns nahezu alle weiblichen Hollywoodgrößen umfassender Castingliste, allerdings fällt es schwer, sich irgendeine andere Schauspielerin in dieser Rolle vorzustellen. Bullock nutzt die vergleichsweise raren Momente, in denen ihr Gesicht zu sehen ist, um die beste Performance ihrer Karriere abzuliefern: Sie verleiht dem Effektthriler mit ihrem intensiven, nie aber übertriebenen Spiel ein emotionales Zentrum, lässt eine Protagonistin erkennen, die völlig zu Recht Todesangst hat, die aber dennoch eine eigene Persönlichkeit hat. Stone ist nicht bloß die verängstigte Raumfahrerin in Nöten, sondern dank Bullocks nuanciertem Mienenspiel eine runde Figur – wodurch all das Unglück, das ihr widerfährt, umso schmerzvoller wird.

Die furchteinflößende Wirkung der Ereignisse in «Gravity» wird darüber hinaus enorm durch Steven Prices aufregende Filmmusik verstärkt. Da Cuarón in seinem Weltraumfilm wissenschaftliche Fakten achtet, bleibt das All geräuschlos. Daher übernimmt die Musik die Aufgaben der Soundeffekte: Wenn zum Beispiel das Shuttle zerstört wird, weicht die zuvor zu vernehmende ruhige, unheilvolle Melodie einem nahezu ohrenbetäubendem Bass. Generell untermalt Price das Geschehen klangvoll und intuitiv: Je mehr Stone die Kontrolle verliert, umso schriller und schneller tönt Prices Score, ohne aber dabei zur reinen Kakophonie zu verkommen. Stattdessen verschnüren elegante Leitmotive und kraftvolle Melodien die genussvoll-haarsträubende Begleitmusik in «Gravity» zu einem denkwürdigen Gesamtpaket.

Gleiches gilt für die Gesamtheit von Cuaróns Kinoerlebnis. Zwar verzichtet er auf größere Statements, womit er in gewisser Weise simpler als etwa Stanley Kubricks «2001 – Odyssee im Weltraum», Andrei Tarkowskis «Solaris» oder Duncan Jones' «Moon» ist, dennoch ist er aufgrund seiner unvergleichlichen Umsetzung ein wahres Kunststück. Dank gestochen scharfem sowie intuitiv eingesetztem 3D und makellosen Effekten sieht «Gravity» lebensecht aus und wirkt nie wie ein reines Spektakel. Darüber hinaus begeistern Bullocks starkes Spiel, die (in jeglichem Sinne des Wortes) atemberaubende Kameraführung sowie der bewusst minimalistische, daher so mitreißende Plot, weshalb Cuaróns Astronauten-Thriller bereits mit seinen groben philosophischen Pinselstrichen perfekt auskommt. Insgesamt liegt der Vergleich zu Rodrigo Cortés' «Buried – Lebend begraben» näher als zu früheren Arthouse-Filmen übers Weltall. Wie «Buried – Lebend begraben» fasziniert «Gravity» durch anspruchsvolles Handwerk sowie zahlreiche kreative Ansätze, die die begrenzte Prämisse in geistreiches Spannungskino verwanden.

Fazit: Nie war ein Abstecher ins Weltall spannender. Cuaróns Comeback auf den Regiestuhl ist beklemmend, packend und ein Meisterwerk des digitalen Filmemachens.

«Gravity» startet am 3. Oktober in zahlreichen deutschen Kinos.
30.09.2013 11:45 Uhr Kurz-URL: qmde.de/66453
Sidney Schering

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