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Der Fernsehfriedhof: Die große Casting-Schummelei

Quotenmeter.de erinnert an all die Fernsehformate, die längst im Schleier der Vergessenheit untergegangen sind. Folge 232: Eine spektakuläre Talentsuche, die sich als kalkulierte PR-Aktion herausstellte.

Liebe Fernsehgemeinde, heute gedenken wir des wahrscheinlich größten TV-Events der frühen 1990er Jahre.

«Wer wird die neue Scarlett?» wurde im August 1992 in Sat.1 geboren und entstand zu einer Zeit, als der Roman „Scarlett“ mit rund 20 Millionen Exemplaren zu einem der größten Bestseller der Welt wurde. In ihm setzte die amerikanische Autorin Alexandra Ripley endlich den legendären Kinofilm «Vom Winde verweht» fort, dessen literarische Vorlage aus dem Jahr 1936 bewusst ein abschließendes Ende offen ließ.

Unmittelbar nach Erscheinung der Fortsetzung entbrannte ein Wettlauf um ihre Verfilmungsrechte, der letztlich von einer internationalen Allianz von Medienunternehmen mit einem Kaufpreis von rund neun Millionen US-Dollar gewonnen wurde. Zu ihnen gehörte neben dem US-Sender CBS, dem Medienmogul Silvio Berlusconi auch die deutsche Kirch-Gruppe und dessen Kanal Sat.1. Es entstand zwischen Januar und Juli eine vierteilige Miniserie, deren Produktionskosten mit 40 Millionen US-Dollar rekordverdächtig war. Schnell wurde bekannt, dass «James Bond»-Darsteller Timothy Dalton den legendären Clark Gable als männlichen Hauptdarsteller dabei beerben würde. Nur die Besetzung seines weiblichen Gegenstücks blieb lange unklar und verursachte eine weltweite Suche, die rückwirkend als eine der ersten Fernsehcastingshows angesehen werden kann.

Damit schlossen die Produzenten direkt an den Besetzungskrampf der filmischen Vorlage in den späten 1930er Jahren an. Damals sorgte die Auswahl für viel Aufsehen, denn zunächst bat die Filmfirma die amerikanische Bevölkerung, ihr per Postkarte Wunschkandidatinnen zu nennen. Anschließend zogen unzählige Talentsucher durchs Land und sichteten in einem Zeitraum von 18 Monaten Tausende Bewerberinnen. Von diesen Terminen sind Begebenheiten überliefert, die heutigen exzentrischen Casting-Auftritten auffallend ähneln. Letztlich brachte diese Aktion dem Film zwar eine gigantische Werbewirkung, brachte die spätere Darstellerin Vivian Leigh dennoch nicht hervor. Sie wurde im Laufe der Dreharbeiten eher zufällig entdeckt.

Dieser Werbeeffekt sollte im Jahr 1992 nun auch für die TV-Fortsetzung wiederholt werden, indem nach der geeigneten Besetzung in 17 Ländern mithilfe von Fernsehsendern gesucht wurde. In Deutschland erfolgte dies im Sommer 1992 in Sat.1 unter dem Titel «Wer wird die neue Scarlett?». Dafür bewarben sich rund 700 deutsche Nachwuchsschauspielerinnen. Die fünfzehn verheißungsvollsten Kandidatinnen wurden anschließend den Zuschauern vorgestellt. Dazu spielte jede von ihnen eine zentrale Szene aus dem Ursprungsfilm in nachgebauten Kulissen und originalgetreuen Kostümen nach. Wie auch bei heutigen Castingshows üblich, stießen die gezeigten Leistungen nicht nur auf Zustimmung. Die Autorin Barbara Sichtermann bemängelte damals in der Zeitung Die Zeit beispielsweise die „Naivität bundesdeutscher Jungschauspielerinnen, die mit ihren treudoofen Visagen und ihrem kindischen Gestammel unerträgliche Karikaturen liefern auf den Zauber der Vivien Leigh und die Stimmung des Films.“

Die Vorstellung der Teilnehmerinnen und ihr zugehöriger Probeauftritt erfolgte in jeweils fünfminütigen Beiträgen, von denen werktäglich einer um 20.00 Uhr zwischen «Glücksrad» und dem Wetterbericht gezeigt wurde. Am nachfolgenden Wochenende stimmten die Zuschauer per Telefon über die Wochengewinnerin ab. Nach drei Wochen zogen auf diese Weise drei Damen ins Finale, in dem eine Jury die schlussendliche Siegerin kürte. Diese trat dann wiederum gegen die anderen Vertreterinnen der nationalen Ausscheide an.

Als die Produzenten des TV-Events schließlich die Schauspielerin Joanne Whalley-Kilmer als neue Scarlett vorstellten, waren die internationalen Proteste riesig, denn sie stammte aus keinem der zuvor durchgeführten TV-Castings. Die nationalen Gewinnerinnen erhielten stattdessen lediglich winzige Komparsenrollen. Zuvor stieß auch das Auswahlverfahren der deutschen Version auf Kritik, denn es blieb lang unklar, dass die telefonische Abstimmung für die finale Jurywertung kaum eine Bedeutung hatte. So wurde nämlich nicht der Publikumsliebling Catherine Haufe Flemming, sondern ihre Konkurrentin Natalia Wörner ausgewählt.

Letztlich offenbarten diese Ergebnisse nur was längst klar war. Der ganze Rummel um die Besetzung der neuen Scarlett war – wie schon in den 1930er Jahren – nicht mehr als eine enorme PR-Aktion. Dem Erfolg des TV-Ereignisses hat dies dennoch nicht geschadet, denn es konnte in über 60 Länder verkauft werden und feierte am 13. November 1994 in zehn Staaten (u.a. auch in Sat.1) zeitgleich ihre Premiere. Allein in Deutschland verfolgten dies mehr als zehn Millionen Menschen.

Die Reihe «Wer wird die neue Scarlett?» hinterließ die deutsche Bewerberin Natalia Wörner, die später in den Kinofilmen «Irren ist männlich», «Die Sieger» und «Frauen sind was Wunderbares» sowie in zahlreichen TV-Filmen wie «Die Sturmflut» und diversen «Tatort»-Ausgaben mitwirkte. Für Ihre Rolle in «Bella Bock» erhielt sie im Jahr 2000 sogar den Deutschen Fernsehpreis. Die Idee, Schauspieler durch ein TV-Casting zu suchen, wurde ab 2008 von Sendungen wie «Bully sucht die starken Männer» und «Mission Hollywood» erneut aufgegriffen.

Möge die Show in Frieden ruhen!

Die nächste Ausgabe des Fernsehfriedhofs erscheint am kommenden Donnerstag und widmet sich dann dem längst vergessenen Vorläufer von «Popstars».
21.03.2013 11:00 Uhr Kurz-URL: qmde.de/62762
Christian Richter

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