Die Stimme des Volkes wollen sie sein, Selbstdarsteller sind sie eigentlich: Stammgäste, die in Talkshow-Studios ein und aus gehen. Warum setzen die Redaktionen immer mehr auf Gäste wie Heiner Geißler und Co.? Und was macht dies mit dem Genre selbst?
Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie in den vergangenen Wochen Heiner Geißler im Fernsehen gesehen haben, ist relativ hoch. Eigentlich ist sie immer relativ hoch. Geißler, seit Stuttgart 21 der „Schlichter der Nation“, ist auch Talkshowkönig der Nation. Kaum jemand absolviert mehr Auftritte bei Jauch, Maischberger und Co. – und wohl niemand zu solch unterschiedlichen Themen wie er. Ende Januar diskutierte er bei «Anne Will» über die Sexismus-Debatte, zwei Wochen später über den Rücktritt des Papstes. Gemeinsam übrigens mit Matthias Matussek und Jürgen Fliege, zwei weiteren „Experten“, die zum elitären Kreis der Meinungsmacher im deutschen Fernsehen gehören.
Diese Talkshow-Hopper verstehen es, sich selbst als Stimmen ihrer Klientel zu inszenieren. Peter Kümmel beschrieb sie jüngst in der Wochenzeitung „Die Zeit“ als „Volks-, Wissens- und Empörungsdarsteller“. Sie stünden „stellvertretend für andere, die da sitzen sollten, aber nie zu sehen sein werden, stellvertretend nämlich für womöglich Klügere und Wahrhaftigere, Gefährlichere und Sensiblere.“ Heiner Geißler ist in Kümmels Typologie der Talkshow der „Weise aus dem Schwarzwald“, Peter Scholl-Latour ist „der finstere Seher“. Oliver Pocher wird im „Zeit“-Artikel beispielhaft angeführt für die merkwürdige Choreographie des heutigen Talkshow-Systems: Ihn kann man – als unterhaltenden Füllgast, als comic relief – zu jedem Thema dazusetzen.
Ein ähnlicher Fall ist Werner Hansch, die „Stimme des Reviers“. Er steht als Beispiel für jemanden, der sich innerhalb kurzer Zeit im Kreis der Talk-Experten etablieren konnte. In den Vorjahren nur mit sehr sporadischen Auftritten bedacht, war er im Februar 2012 erstmals Gast bei «maybrit illner», als die Demenzerkrankung seines Freundes Rudi Assauer öffentlich geworden war. Hansch berichtete über die Erfahrungen und seinen Umgang mit der Krankheit Assauers – und wurde, ohne es zu forcieren, plötzlich zum gefragten Mann auf der Talkshow-Bühne. Es folgten bis zum Ende des Jahres vier weitere Auftritte allein bei «hart aber fair» und «Anne Will», zu unterschiedlichsten Themen wie der Sterbehilfe und dem Tod, einem Politiker-Check, der Europameisterschaft 2012 und der Debatte um Kanzlerkandidat Peer Steinbrück. Wie abstrus die Rechtfertigungen für einen Auftritt bestimmter Gäste manchmal sind, zeigt besonders das letzte Thema: Hansch war lediglich Moderator des Bochumer „Atrium-Talk“, bei dem Steinbrück eine hohe Gage kassiert hatte und dafür später in die Kritik geraten war. Aber: Der ehemalige Fußballreporter – wortgewandt, fernsehtauglich, engagiert und leidenschaftlich – brachte alle Eigenschaften mit, die man sehen wollte.
Dass es überhaupt diese ganz eigene Sphäre solcher Talkshow-Hopper gibt, liegt an der bereits angesprochenen Choreographie des Genres: Die Redaktionen platzieren in ihrer Sendung jene Gäste gern, die schlagfertig für bestimmte Ansichten stehen – daher auch ihre Stellvertreterrolle. So können die Gesprächspartner gut aufeinander abgestimmt werden; die eigentliche Diskussion wird so schon vor Beginn der Sendung in eine bestimmte Richtung gelenkt: Wer Jutta Ditfurth oder Alice Schwarzer einlädt, weiß, worauf er sich einlässt – und wie sehr er mit solchen Personen eine gesamte Sendung prägt. Man kann sich die Auswahl der Gäste wie bei einem Karteikartensystem vorstellen, wo auf jeder Karte die Charaktereigenschaften und Standpunkte des jeweiligen Talk-Kandidaten verzeichnet sind. Ist die Auswahl später ordentlich gemischt, kommt mittlerweile relativ automatisch eine unterhaltsame Sendung heraus.
Die Nachteile einer solchen Choreographie sind unverkennbar: Zunächst scheint es in der Talkshow keinen offenen Prozesscharakter mehr zu geben. Oft hat man als Zuschauer das Gefühl, die Diskussion habe sich im Kreis gedreht – und man ist am Ende wieder dort angelangt, wo man am Anfang stand. Neue Erkenntnisse lassen sich nur schwer gewinnen. Dieser Umstand hängt direkt mit den oben angesprochenen Karteikarten-Gästen zusammen: Denn aufgrund ihrer Rolle, die sie für ihre Klientel erfüllen müssen, oder aufgrund ihres selbst festgelegten Images, müssen die üblich verdächtigen Gäste die Erwartungen an ihre Person bedienen – wer aus der eigenen Rolle herausfällt, wird für die Redaktionen uninteressanter, weil die Planung erschwert wird.
Dies heißt aber im Umkehrschluss, dass Gesprächsstandpunkte schon von vornherein festgefahren sind: Der Diskussionscharakter einer Talkshow bleibt zwar erhalten – und wird durch die engagierten Gäste vielleicht sogar erhöht – aber Kompromisse, Synthesen lassen sich kaum noch finden. Denn die Gäste müssen auf ihren Standpunkten beharren, um glaubwürdig und interessant zu bleiben.
Hinter vorgehaltener Hand sagte man früher, dass bei «Sabine Christiansen» mehr Politik gemacht und mehr Vereinbarungen getroffen würden als im deutschen Bundestag. Heute scheint die Situation ins Gegenteil verkehrt: Stellvertreter werben in den Shows oft für die Entscheidungen, die bereits von ihren Chefs getroffen wurde. Und echte Größen, wirkliche Entscheider, wie sie früher bei Christiansen saßen, haben es heute kaum noch nötig, die Talkshow-Studios von innen zu sehen. Ausnahmen wie Ursula von der Leyen, 2012 allein viermal bei Jauch zu Gast, bestätigen die Regel. Aber auch hier sind es höchstens hochrangige Politiker, die sich die Ehre geben. Entscheider aus der Wirtschaft, Wissenschaft, dem Sozialwesen, der Kultur treffen sich in Talkshows kaum.
Solange Zuschauer damit leben können, eine unterhaltsame Diskussion ohne Ziel zu schauen, ist an den Talkshow-Hoppern nichts Verwerfliches zu finden. Außerdem gibt es Sendungen, die immer öfter mit Themen und Gästen abseits der Norm auffallen: Sandra Maischberger, die ohnehin oft Ratgeber-TV in Diskussionsform anbietet, oder auch Maybrit Illner. Aber auch alle anderen Talkshows bieten manchmal Ausgaben mit neuen Gesichtern an. Die Talkshow-Hopper treten meist gebündelt in bestimmten Sendungen auf – man kann ihnen also aus dem Weg gehen, wenn man will.
Dies gilt ohnehin dann, wenn man sich andere Diskussionsformate sucht, die von der Choreographie des Genres noch nicht zu stark geprägt sind: die Phoenix-Runde «Unter den Linden», der 3sat-Wissenstalk «scobel», die arte-Sendung «28 Minuten» oder der sonntagmittägliche «Presseclub». Sie alle bieten andere, neue Perspektiven für die Zuschauer. Wie beim gesamten TV-Programm gilt auch hier: Genau hinschauen, bevor man hinschaut.