Neben einer 50-jährigen Sextouristin stehen bei den Neustarts dieser Woche ein depressiver Enddreißiger und Jack Reacher im Mittelpunkt.
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«The Sessions - Wenn Worte berühren»
Mark O'Brien (John Hawkes) hat sich längst an die Komplikationen gewöhnt, die sein Leben mit sich bringt. Er ist seit seinem sechsten Lebensjahr unterhalb seines Kopfes bewegungsunfähig und somit ständig auf fremde Hilfe angewiesen. Große Teile seines Tages verbringt er in der Eisernen Lunge, ohne die eine ausreichende Beatmung seines Körpers nicht möglich wäre. Befindet er sich ausnahmsweise einmal nicht dort, wird er von seinen Pflegern umher gefahren - diese Momente stellen für ihn schon die glücklichsten des gesamten Tages dar. Trotz allen Widrigkeiten ist er nicht bereit, sein Leben aufzugeben und kämpft tapfer weiter um jeden kleinen Fortschritt. Eines Tages verliebt sich Mark in seine neue Pflegerin Amanda (Annika Marks) und schockiert diese damit so sehr, dass sie sofort die Flucht ergreift und durch die sehr viel ausgeglichenere Vera (Moon Bloodgood) ersetzt wird. Sein großer Traum, einmal im Leben Sex haben zu können, soll nun unbedingt in Erfüllung gehen. Gemeinsam mit der Sex-Therapeutin Cheryl Cohen Greene (Helen Hunt) bereitet er sich auf dieses ungewöhnliche Unterfangen vor...
Der alles in allem bei der Mehrzahl der Kritiker als überdurchschnittlich empfundene Film wird von
programmkino.de-Redakteur Michael Meyns vor allem für die starke Besetzung der Hauptrolle gelobt. John Hawkes verhehle nämlich "nicht die weniger angenehmen Aspekte und das sarkastische, bisweilen zynische Wesen" seiner Figur, wenngleich "sein inspirierender Geist, sein Lebenswille und sein Humor" im Vordergrund stehen. Er zieht eine Parallele zum Überraschungshit «Ziemlich beste Freunde» und bezeichnet «The Sessions» als ähnlich "warmherzig und lebensbejahend". Carsten Baumgardt von
filmstarts.de lobt generell die "überragenden darstellerischen Leistungen", denn neben Hawkes gelinge es auch Helen Hunt, "mit großer Ernsthaftigkeit über einige [erzählerische] Untiefen hinweg, denn auch ihrer Figur fehlt in der Anlage die Ambivalenz". Somit sei die "optimistische Ode" trotz arger "struktureller Probleme" doch sehenswert, denn sie profitiere "von einem vorzüglichen Ensemble und einer Menge feinen Humors". Roger Ebert von der
Chigago Sun-Times sieht «The Sessions» sogar als Korrektur "zahlloser hirnloser und billiger Sexszenen aus anderen Filmen", der "uns daran erinnert, dass wir höflich miteinander umzugehen haben".
OT: «The Sessions» von Ben Lewin; mit John Hawkes, Helen Hunt, William H. Macy, Moon Bloodgood, Annika Marks und W. Earl Brown
«Paradies: Liebe»
Teresa (Margarete Tiesel) ist mit ihrem Leben unzufrieden. Mit ihren 50 Jahren ist sie als alleinerziehende Mutter längst an eine gewisse Routine gewöhnt, doch in letzter Zeit gibt es in ihrem Alltag schlicht überhaupt keine Abwechslung mehr. Auch in ihrer Erziehung scheint sie nicht alles richtig gemacht zu haben, denn ihre Kinder haben noch immer nicht wirklich gelernt, was das Wort Selbständigkeit bedeutet. Und von Zuneigung, bestenfalls sogar noch körperlicher Natur, wagt sie ohnehin schon kaum noch zu träumen, so fern ist sie ihr längst. Endlich beschließt sie, eine längst überfällige Auszeit einzulegen und entschließt sich für einen Kurzurlaub in Afrika. Die fremde Kultur beeindruckt sie, jedoch fühlt sie sich auch leicht überfordert. Durchaus nicht abgeneigt ist sie von den jungen Beachboys, die sie am Strand mit exotischen Verführungskünsten umgarnen. Obwohl sie dies noch vor kurzer Zeit kategorisch ausgeschlossen hätte, wird sie somit zur Sextouristin - doch der Glaube an die Einfachheit der Liebe soll sich noch als fatal und überaus naiv herausstellen...
Ein insgesamt sehr positives Feedback erhält das österreichische Drama von Ulrich Seidl. Beatrice Behn schreibt in ihrer Festivalkritik von Cannes, dass der Film "anfänglich durch seinen trockenen Humor besticht", was jedoch "nur die Oberfläche des Filmes" sei, denn nach und nach entpuppe er sich "als knallharter Sozialkommentar und vor allem als Film, der seine Geschichte konsequent durchkonjugiert". Auch sei es beachtlich, dass hier Körper auf der Leinwand präsentiert, "die so fast gar nicht in Kino und Fernsehen vorhanden sind: Die Frauen sind mittleren Alters, großbusig und übergewichtig" und "die Präsentation ihrer nachten und vor allem sexualisierten Leiber [...] ist ein Anblick, der verstört". Andreas Borcholte von
Spiegel Online sieht hierin "eine Stilübung in Ekel und Tristesse", bei dem Seidl allerdings "in immer gleichen Ekelbildern vom immer gleichen Punkt erzählt, den er bereits früh hinreichend deutlich gemacht hat". Allerdings decke er "durchaus mitfühlend auf, welche postkolonialistischen Mechanismen beim sexuellen Austausch zwischen saturierten Europäerinnen und hungrigen Kenianern wirken" und nimmt überdies "Teresas Suche nach Liebe durchaus ernst". Michael Föls von
filmering.at bezeichnet «Paradies: Liebe» ebenfalls als "äußerst gelungen", da er "kalkulierten Tabubruch" begehe und "einen fesselnden Blick auf jene Bereiche des Lebens" ermögliche, "über die man normalerweise hinwegblickt".
OT: «Paradies: Liebe» von Ulrich Seidl; mit Margarete Tiesel, Inge Maux, Carlos Mkutano, Peter Kazungu und Gabriel Mwarua