Jan Böhmermann weitete 2012 die Popularität seiner forschen, satirischen Art massiv aus, überflügelte Harald Schmidt in dessen Show und startete eine Kult-Talkshow. Über den (nicht ganz so) heimlichen TV-Gewinner des Jahres ...
Fast wäre man dazu geneigt, Böhmermann als den Durchstarter des Jahres zu bezeichnen. Dabei ist er schon lange Teil der deutschen Radio- und Fernsehwelt. Dort war er auch keinesfalls ein unauffälliges Lichtlein. Aber im Vergleich zu dem nachhaltigen Eindruck, den der Wahlkölner 2012 hinterließ, verblasst sein vorheriges Wirken. Als männliche Hälfte des titelgebenden Moderatorenduos der vom Feuilleton und der jungen, netzaffinen Zielgruppe gefeierten Talkshow «Roche & Böhmermann» sowie wandelnder Jahreshöhepunkt der Sat.1-Inkarnation der «Harald Schmidt Show» gewann Böhmermann so viele neue Anhänger, dass es im Rückblick fast erstaunt, dass er bereits seit mehreren Jahren auf zahlreichen Plattformen auf die wilden, jungen Intellektuellen zielt. Vorher war er fähiger Schütze – dieses Jahr traf er mehrmals hintereinander exakt ins Schwarze.
Den Anfang nahm Böhermanns Erfolgsjahr am 17. Januar, als er in die «Harald Schmidt Show» schneite, um Dirty Harry und Helmut Zerlett in der Ausgabe zuvor bei ihrer „Schmidt bekommt Twitter“-Aktion alles falsch gemacht haben. Böhmermann, der bereits 2009 zum Schmidt-Ensemble dazustieß und zuvor noch von nostalgischen Fans mit seinen restlichen Kollegen als überflüssig bezeichnet wurde, bestach neben Schmidt mit frechen Retourkutschen – die Reaktionen der Onlinefans waren überwältigend. Daraufhin wurde „Mr. Tweet“ häufiger eingeladen und machte den Pseudo-Sidekick. Gemeinsam mit Schmidt belästigte er den Online-Account von «Gottschalk Live», erstellte PowerPoint-Präsentationen und berichtete von seinem Asbest-verseuchtem Haus. Die Quoten rettete Böhmermann nicht, aber er versöhnte (nahezu im Alleingang) Schmidts, zuvor noch wegen der neuen Mitspieler des Late-Night-Urgesteins aufgebrachte, Fanbase mit dem Format.
Überflügelte Böhmermann im Frühjahr noch Harald Schmidt in dessen Show, wirbelte er mit Charlotte Roche ab März auch mit einem eigenen Format televisionären Staub auf. Die Talkshow «Roche und Böhmermann» lässt sich gar nicht mehr in Worten beschreiben, die der Feuilleton nicht längst für sie genutzt hat. Die Radiowelle Bayern 2 lobt „seit Ray Cokes Mitte der 90er den Kultstatus von MTV definierte, war nicht mehr so viel Punk im Fernsehen“, im Spiegel analysierte man begeistert das „ Ambiente zwischen Pokertisch und Boxring“ und wie oft die Worte „Retro“, „postmodern“ und „anarchisch“ im Zusammenhang mit dem ZDFkultur-Talk fielen, kann man kaum noch mitzählen.
Die hohe, respektvolle Gesprächskultur wird im verrauchten, kaum beleuchteten Studio nicht gepflegt. Da greift Böhmermann auch mal Britt Hagedorn an, weil sie in «Schwer verliebt» Menschen „am Rande der geistigen Behinderung“ bloßstelle, allerdings geschieht dies auf einer wunderlich un-krawalligen Weise. In «Roche und Böhmermann» geben sich die Gäste, auch dank Roches und Böhmermanns Fragestil, authentisch und plaudern offen drauf los. Gefühle können da verletzt werden, Grenzen überschritten – aber nie mit amoralischem Kalkül.
ZDFkultur erreichte mit der ersten Staffel 0,3 Prozent in der jungen Publikumsgruppe (also das Dreifache des Senderschnitts) und durchschnittlich 50.000 Zuschauer. Staffel zwei verbesserte sich um rund 10.000 Gesamtzuschauer, bei den 14- bis 49-Jährigen wurden im Schnitt 0,5 Prozent eingefahren. Die Dunkelziffer liegt gewiss deutlich höher – in der ZDF-Mediathek ist das Format ein Renner und auch bei YouTube stapeln sich die Clips.
Die Popularität ist groß genug, dass das ZDF das Nischenformat ins Hauptprogramm holt. Für den früheren Radiojournalisten gewiss ein Anlass zur Freude. „Ich habe keinen Bock, mit Nischenproduktionsbudget eine Nischenproduktion für ein Nischenhonorar zu machen, das ist natürlich unbefriedigend. Damit wir langfristig das Fernsehen retten können, müssen uns erstmal mehr Leute sehen“, erklärte Böhmermann noch im November dem Magazin Neon. 2012 war ein erster Schritt in diese Richtung. 2009 wurde noch die vom Feuilleton gefeierte Show «TV-Helden» eingestellt, bevor Mundpropaganda entstehen konnte. 2012 wurde über Böhmermanns Nischensendungen debattiert, als seien sie Primetime-Hits bei RTL oder ProSieben. Und 2013 ..?