In dieser Woche schreibt Uwe Walter über das festgefahrene deutsche TV-System.
Wenn wir über das Fernsehen reden, reden wir gerne inhaltlich: über Geschichten, Menschen und Protagonisten. Doch die größte Macht über das Fernsehprogramm hat das Wertesystem eines Senders. Die Praktikanten, Redakteure, CvDs, Programmchefs und Geschäftsführer wissen, was für ihren Sender d’accord ist und entscheiden dementsprechend. Wenn man dann noch die hierarchischen Stuhlbein-Sägeaktionen und die politischen Messerstechereien hinter den Kulissen bedenkt, ist es kein Wunder, dass das Entwicklungspotenzial gleich Null ist.
Erstaunlicherweise ist den meisten von uns aber gar nicht bewusst, dass wir in einem System leben. Es ist, als würden wir in einem riesigen Fluss schwimmen und könnten uns kaum vorstellen, dass man überhaupt am Ufer stehen kann. Wir tun das Gewohnte, schauen um 20 Uhr die «Tagesschau» und denken, dass das eine objektive, anerkannte Nachrichtensendung ist. Dass aber schon deren offensichtliche Maxime „Bad Stories are good stories“ ein Systemproblem darstellt, das gegen einen allumfassenden Informationsauftrag verstößt, erkennen wir nicht. Wir sind wie unschuldige Kinder, die eben da wohnen, wo sie geboren sind und das essen, was serviert wird. Nur dass es manchen einfach nicht mehr schmeckt und sie deshalb nicht mehr einschalten. Und genau dadurch zum Game Changer werden.
Quoteneinbrüche sind für einen Sender wie ein Stein, den man in einen Ameisenhaufen wirft. Alle müssen sich neu orientieren und andere Wege finden. Die Störung führt zu aktionistischem Handeln. Doch während Ameisen sich in kürzester Zeit neu organisieren und eine alternative Route finden, werden im Sender Leute entlassen. Der Zynismus wächst noch weiter, weshalb noch lautere Formate entstehen, die wieder zu noch weniger Quote und aktionistischem Handeln führen. Wenn diese Abwärtsspirale erst einmal in Bewegung ist, beginnt das System, vor die Wand zu fahren.
Doch das ist noch lange kein Grund, um Weltuntergangsstimmung zu verbreiten. Wir können zwei Dinge tun, um die Abwärtsspirale deutscher Sender zu durchbrechen. Um eine System’s Journey anzustoßen – eine Reise des Systems, die eine überlebenswichtige Veränderung auslöst.
1.) Wir müssen das System explizieren, also uns tatsächlich bewusst werden, dass wir „Frankensteins Monster“ sind. Wir leben unschuldig in einem veralteten, hierarchischen System, das nicht zu uns passt. Wenn wir als Mensch aus der Abwärtsspirale des Systems heraustreten, sind wir quicklebendig und wach. Wenn wir nicht den übergestülpten Werten und Regeln folgen, die mit unserem Denken, unserer Kreativität und unserem Menschsein nichts zu tun haben, sprühen wir vor guten Ideen. In dieser Lebenslust, Spiel- und Innovationsfreude steckt das Potenzial für ein fantastisches Fernsehprogramm.
2.) Wir müssen uns klarmachen, dass die großen Erfolgsmotoren im Fernsehen immer durch Systemwechsel entstanden sind. «Sex and the City» hat das System „Frauen reden in der Öffentlichkeit nicht über Sex“ verändert. Katja Saalfrank hat mit der «Supernanny» das System „Kindererziehung ist Privatsache“ durchbrochen. «The Voice of Germany» hat «DSDS» gezeigt, dass das totalitäre Hoch des „Nur-so-funktionieren-Castingsshows“-Systems vorbei ist. So wie ein System eben immer dann vorbei ist, wenn es alleinbeherrschend und neurotisch rüberkommt. Wenn es Dinge einseitig sieht und jeder, der dagegen spricht, sofort angegriffen oder angeklagt wird. Das ruft Revoluzzer auf den Plan - siehe Urheberrecht und Piraten. Oder Politikshows und Stefan Raab.
«Absolute Mehrheit» ist der Ringkampf zweier Systeme. Da fightet das politische System der Phrasendrescher, Zyniker, Machthungrigen, selbst oft nicht wirklich im Thema Stehenden mit dem Raabschen Spielsystem. Der hat einen direkten Schuss und Anarchie zu bieten. Raab will die Schlacht aufnehmen – keine einfache Aufgabe, bei seinem Goliath-ähnlichen Gegner, der so sehr für die Eingefahrenheit deutscher Systeme steht, dass sich niemand daran die Finger verbrennen will. Eine Aufgabe, für die man unerschrocken sein muss – und das ist er, der Raab.
Dass Systeme schwerfällig sind, ist nichts Neues. Dass sie mit ihrer Behäbigkeit, ihren langen Wegen und andersmahlenden Mühlen das Neue aber nicht mehr aufhalten können, schon.
Aufmerksamkeit ist das höchste Gut. Wir schenken unsere Aufmerksamkeit am liebsten denen, die beweglich sind. Die Spaß haben. Und keine Angst, sich neu zu erfinden. Herzlich Willkommen im Internet.