Die einfühlsame WDR-Reportage aus der Reihe «Menschen hautnah» befasst sich ausdifferenziert mit dem Suizid eines 16-jährigen Schülers.
Inhalt
Sein letzter Brief und seine darauf folgende Tat trafen seine Eltern wie aus heiterem Himmel: Er habe ihnen nie von den Hänseleien in der Schule und den ständigen Rückschlägen der vergangenen Monate erzählt, könne all dies nicht mehr ertragen und werde dem nun ein Ende bereiten. Kurz darauf nahm sich der 16-jährige Lucas B. das Leben. Seither ist knapp ein Jahr vergangen, in seinem Heimatdorf herrscht weiterhin Ratlosigkeit. Während sich die Jugendlichen größtenteils in Unschuld sowie Unwissenheit wähnen, und nur einige wenige beteuern, etwas vom unaufhörlichen Mobbing des beinahe zwei Meter großen, ungelenken Epileptikers mitbekommen zu haben, sind die Erwachsenen erschüttert. Die Psychologen, die ihn seit einem gescheiterten Selbstmordversuch betreuten, sind sprachlos, rätseln, wie sie davon ausgingen konnten, dass er seine Depressionen weitestgehend besiegt habe.
Lucas war ein aktives Mitglied im Schützenverein, war dort sehr beliebt und auch erfolgreich, immer wieder half er bei der Planung und Durchführung der Vereinsfeste. Seine erwachsenen Schützenkollegen sprechen in warmen Tönen von Lucas – und bedauern, ihn augenzwinkernd „den Kleinen“ genannt zu haben. Es sei eine liebevolle Neckerei gewesen, doch vielleicht habe Lucas sie falsch aufgefasst, ohne dass es jemandem auffiel. Von nun an wolle man im Verein vermehrt über persönliche Sorgen sprechen, statt andauernd nur gemeinsame Interessen und Freizeitvergnügen zu thematisieren. Denn so könne man möglicherweise frühzeitig erkennen, dass jemand an Selbstmord denkt.
Die Autoren dieser Dokumentation begleiten vor allem Lucas' Eltern, die sich voneinander zeitversetzt in psychologische Behandlung begeben, um Hilfe bei der Trauerbewältigung zu erhalten. Sie sind weiterhin fassungslos, weigern sich dennoch, den einfachen Weg zu gehen und Schuldige an Lucas' Entscheidung zu suchen. Lucas' bester Freund Marko wirft sich unterdessen vor, nicht mehr getan zu haben, selbst wenn er nicht weiß, was Lucas hätte helfen können. Auch Markos Eltern, die viel Zeit mit Lucas verbrachten, suchen nach Indizien, nach frühen Vorwarnungen, die sie hätten erkennen müssen. Ein verzweifeltes Unterfangen, das mit keiner klaren Antwort enden kann.
Kritik
Das Thema Selbstmord gehört zu den sensibelsten und auch gefährlichsten, die in den Medien angefasst werden können. Aus Furcht vor Nachahmungen, dem sogenannten Werther-Effekt, empfiehlt der Deutsche Presserat eine große Zurückhaltung bei Berichterstattung über Suizidtaten. Eine Empfehlung, die häufig ignoriert wird. Die Dokumentation «Lucas' letzter Brief – Warum bringt sich ein Junge um?» von Katharina Gugel und Ulf Eberle führt indes vor, wie sich Medien diesem Thema nähern können. Die Initialzündung zu dieser Folge der «Menschen hautnah»-Reihe des WDR stammt von Lucas' Vater, der sich in der Hoffnung an die Redaktion gewendet hat, dass ein entsprechender Bericht für Aufklärung sorgen und Selbstmorde verhindern könnte. Außerdem versprach er sich, unter Mithilfe der Redakteure Antworten zu finden – oder zumindest Beistand bei seiner Suche zu erhalten.
Es ist letztere Aufgabe, der die Reporter primär nachkommen. Statt im Dreck zu wühlen und mögliche Schuldige aufzudecken, bilden sie die hoffnungslose Ursachenforschung ab und dienen als Gesprächspartner für Betroffene. Zumeist die Fragen der Reporter, und somit auch die gesamte Dokumentation, nüchtern, es wird nur nachgehakt, wenn jemand aus Lucas' sozialem Umfeld sprechen möchte, nicht aber weiß, was er erzählen soll. Sie helfen den Interviewpartnern, sich auszusprechen. Kritische Fragen bleiben nicht völlig aus, werden jedoch stets angemessen formuliert. Früh machen Gugel und Eberle deutlich, dass sie keine eindeutigen Antworten über Lucas' Tat finden wollen, und zwar, weil es keine geben kann – entgegen der Behauptungen des Sensationsjournalismus.
Konsequenterweise handelt «Menschen hautnah: Lucas' letzter Brief – Warum bringt sich ein Junge um?» davon, wie sich Lucas' Eltern diese Frage stellen, und wie sie versuchen, trotz dieser stets brennenden Frage seelisch wieder in den Alltag zurückzufinden. Die Reportage handelt auch davon, wie Schule und Psychologen diese Frage angehen, um künftig besser zu handeln. Es geht nicht darum, dem Zuschauer eine Antwort auf die titelgebende Frage an die Hand zu geben, sondern abzubilden, welche Leere ein Selbstmord hinterlässt. Einblicke in Lucas' Lage erhält das Fernsehpublikum, zwangsweise, nur aus dritter Hand. Dadurch kann es erahnen, wie sich die Hinterbliebenen Lucas' fühlen müssen, die nur Indizien und teils widersprüchliche Aussagen vorfinden. Sagt ein Mitschüler, dass Lucas nicht intensiver auf den Arm genommen wurde, als alle anderen, findet eine Mitschülerin, dass Lucas ganz klar das Lieblingsopfer der selbsternannten Coolen der Schule war. Was stimmt, bleibt offen, verantwortungsbewusst entziehen sich auch die Dokumacher eines Urteils.
Wenn es eine klare Antwort gibt, dann, dass das zynische Allgemeinurteil, Selbstmord sei ein lebensverdrossener Denkzettel, mit dem der Suizidtäter seinen Mitmenschen eins auswischen möchte, nicht zutrifft. In seinem Abschiedsbrief wünscht Lucas seiner Familie alles Gute, ein frohes Leben – wohl kaum ahnend, dass sein Vater daraufhin für lange Zeit nicht die Kraft finden sollte, den gemeinsam geplanten Gartenumbau durchzuführen.
«Menschen hautnah: Lucas' letzter Brief – Warum bringt sich ein Junge um?» rutscht nur in sehr raren Momenten ins Überdramatisierte ab. In kurzen Szenen versuchen die Filmemacher zu visualisieren, wie sich Lucas' Familie und Freunde seine Gedankengänge nach dem Aufstehen oder vor dem Schulsport, wo er besonders intensiv gemobbt wurde, ausgesehen haben könnten. Die Intention hinter diesen Sequenzen ist eine hehre, aber die schrille Musik, verwackelte Kameraführung und betroffenen Sprechertexte wirken in der sonst so besonnen-mitfühlenden Dokumentation befremdlich. Davon abgesehen ist diese WDR-Dokumentation informativ und vor allem auch durchweg vorbildlich. Selbst der viel gelobte Fernsehfilm «Homevideo» aus dem vergangenen Jahr hat sich nicht differenzierter mit diesem Tabuthema auseinandergesetzt.
Der WDR strahlt die Reportage «Menschen hautnah: Lucas' letzter Brief – Warum bringt sich ein Junge um?» am Donnerstag, dem 13. September, um 22.30 Uhr aus.