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Der Fernsehfriedhof: Sex, Drugs und Rebellion

Quotenmeter.de erinnert an all die Fernsehformate, die längst im Schleier der Vergessenheit untergegangen sind. Folge 185: Eine ausgezeichnete Reihe über die deutsche Musik- und Jugendszene.

Liebe Fernsehgemeinde, heute gedenken wir einer beeindruckenden Verbindung von Musik- und Zeitgeschichte.

«Pop 2000» wurde am 14. September 1999 im WDR Fernsehen geboren und entstand zu einer Zeit, als die Bundesrepublik Deutschland ihr 50jähriges Bestehen feierte. Aus diesem Anlass gab es zahlreiche Rückblicke auf die vergangene Geschichte, die sich jedoch meist auf politische Ereignisse konzentrierten. Die Produktionsfirma Me, Myself and Eye (MME) wählte für ihre Rückschau jedoch einen anderen, viel lebendigeren Ansatz. Sie erzählte die Vergangenheit anhand der sich wandelnden Jugendkultur nach und verband sie mit der Rekonstruktion der deutschen Musikgeschichte. „Musik ist nicht nur reine Berieselung, sondern hat auch mit der gesellschaftlichen Bewegung zu tun. Musik ist sogar der integrale Bestandteil“, beschrieb der damalige Initiator und MME-Geschäftsführer Jörg Hoppe die Grundidee. So dienten voranging die Entwicklungen in der deutschen Musikszene als Erzählstrang, mit deren Hilfe die Strömungen unter den jungen Bürgern und letztlich auch gesamtgesellschaftliche Prozesse dargestellt wurden, weswegen die Dokureihe den etwas sperrigen, aber treffenden Untertitel «50 Jahre Popmusik und Jugendkultur in Deutschland» trug.

Zurückgeblickt wurde unter anderem auf die ersten deutschen Rocker, auf die Ära der Beatmusik, auf das Aufkommen der Discowelle, auf den fortwährenden Kampf zwischen Punkern und Poppern, auf die Spaßmacher der Neuen Deutschen Welle, auf die Anfänge des Deutschraps sowie auf die Pioniere der Techno-Musik. Die jeweiligen Trends wurden dann mit den entsprechenden politischen Begebenheiten, wie der Gründung der BRD, dem Aufziehen der Hippiebewegung oder der Wiedervereinigung verknüpft. Dabei schlossen die Macher die Ereignisse in der ehemaligen DDR nicht aus, sondern schilderten auch die dortigen Entwicklungen ausführlich und stellten sie den zeitgleichen Verhältnissen im Westteil gegenüber. Kurz, es entstand ein umfassender und zugleich unterhaltsamer Rückblick auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.

In der rund 18-monatigen Produktionszeit durchstöberte das Team die Archive aller Dritten Programme sowie die privaten Sammlungen einiger Stars. Sie stellten eine Auswahl an aussagekräftigen Zeitdokumenten zusammen, die Aufnahmen von alten Fernsehshows, Nachrichtensendungen, Privatvideos von der Loveparade, Untergrundvideos aus der Punkszene, Tondokumente, Interviews und viele Fotos enthielten. Teile des Materials waren zuvor noch niemals öffentlich aufgeführt worden.

Ferner wurden über 100 Interviews mit Musikern, Schauspielern, Produzenten und Helden der Jugendkultur geführt, die ebenfalls in das Projekt einflossen. Die Bereitschaft der Musikikonen für eine Zusammenarbeit war bis auf wenige Ausnahmen sehr groß, so dass kaum eine wichtige Figur einer Epoche fehlte. Unter anderem kamen Udo Lindenberg, Ted Herold, Dieter Bohlen, Til Schweiger, Herbert Grönemeyer, Peter Kraus, Drafi Deutscher, die Puhdys, Tamara Danz und Xavier Naidoo zu Wort. Als übergeordneter Off-Sprecher hielt der Schauspieler Otto Sander mit seiner markanten Stimme die verschiedenen Elemente zusammen.

Erste Planungen für das ambitionierte Projekt gab es bereits kurz nach der Wende, doch bis es konzipiert und die Finanzierung gesichert war, vergingen rund sechs Jahre. Im WDR Fernsehen fand sich schließlich ein geeigneter Partner, der die Produktion federführend begleitete. Doch auch alle restlichen ARD-Anstalten, die Filmstiftung NRW, die deutsche Phonoakademie und der Musiksender VIVA unterstützten das ehrgeizige Vorhaben. Zusätzlich gab es Medienkooperationen mit dem Radiosender 1Live sowie der Plattenfirma EMI. Neben der TV-Reihe entstanden auch ein umfangreiches Begleitbuch, eine 8-Disc umfassende Musik-Box, auf der die wichtigsten Songs der vergangenen 50 Jahre zu hören waren sowie ein Album, auf dem aktuelle Künstler alte Klassiker der deutschen Popgeschichte coverten. Für die Produktion der beiden Platten zeichnete sich insbesondere Herbert Grönemeyer verantwortlich, der speziell für deren Umsetzung sein Label „Grönland“ gründete.

Weil auch der Kölner Messeveranstalter „musik komm“ unter den Co-Produzenten war, feierte die Reihe ihre Premiere auf der Musikmesse „pop.komm“, bevor sie das WDR Fernsehen als erster deutscher Sender ausstrahlte. Es folgten dann alle anderen Dritten Programme, welche die 30minütigen Ausgaben ebenfalls versetzt zeigten. Rund ein Jahr nach der TV-Premiere und etwa fünf Monate nachdem die letzte ARD-Anstalt ihre Ausstrahlung beendet hatte, war das Projekt zusätzlich nochmals vollständig bei VIVA und dann rund zwei Jahre später erneut auf 3sat zu sehen. Die bislang letzte (unvollständige) Wiederaufführung erfolgte im Jahr 2006 bei EinsFestival.

Der enorme Aufwand für das einzigartige Vorhaben wurde nicht nur durch gute Zuschauerzahlen, sondern auch mit zwei Grimme-Preisen (Kategorien „Information und Kultur“ und „Sonderpreis des Ministeriums für Arbeit, Soziales, Stadtentwicklung, Kultur und Sport NRW“) belohnt. Außerdem war die Reihe für einen deutschen Fernsehpreis nominiert, musste sich jedoch gegen «Der Tunnel» vom SWR geschlagen geben.

«Pop 2000» wurde am 30. November 1999 beerdigt und erreichte ein Alter von zwölf Ausgaben. Die Reihe hinterließ bisher bedauerlicherweise weder eine offizielle DVD-Box noch eine Aktualisierung bzw. Fortschreibung über das Jahr 2000 hinaus.

Möge die Reihe in Frieden ruhen!

Die nächste Ausgabe des Fernsehfriedhofs erscheint am kommenden Donnerstag und widmet sich dann dem Showkampf der Daily Soaps.
05.04.2012 09:00 Uhr Kurz-URL: qmde.de/55876
Christian Richter

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Tags

Der Tunnel Fernsehfriedhof Pop 2000

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