Bei «DSDS» spielt Gesang schon lange keine Rolle mehr. Es geht um ganz andere Dinge. Ein Kommentar von Julian Miller.
Es ist alles noch viel schlimmer als ich es mir vorgestellt hatte.
Ich bin kein regelmäßiger Zuschauer von «Deutschland sucht den Superstar». Hauptsächlich weil ich das Elend nicht mehr sehen kann. Weil ich es nicht mehr sehen kann, wie das Genre der Musiksendung hier pervertiert wird, mit welch billigen Mitteln man hier hemmungslos emotionalisiert, wie man Menschen in die Vermarktungsmaschinerie drängt und sie systematisch entwürdigt.
Spätestens als man beschlossen hat, Bruce Darnell in die Jury zu setzen, war klar, dass sich «Deutschland sucht den Superstar» auch in seinem Selbstbild nicht als Musiksendung sehen kann. Darnell ist Modelcoach, hatte mit Gesang in seiner ganzen Berufslaufbahn nicht das Geringste zu tun, wird aber offensichtlich von RTL als jemand gesehen, der dazu im Stande ist, zu dieser Sendung etwas Sinnvolles beizutragen. Dieter Bohlen fand dann auch schnell zwei Schlagwörter, die Darnell eine Existenzberechtigung in der Jury geben sollten. Er solle für „das Menschliche und Stylische“ zuständig sein.
Mit diesem Satz hat man endgültig offenbart, worum es hier eigentlich geht. Nicht um Musik. Nicht um Gesang. Nicht um die tollste Stimme. Sondern um tragische Familiengeschichten und schwere Krankheiten („das Menschliche“) sowie Waschbrettbäuche und große Brüste, die man dann hübsch verpacken kann („das Stylische“). Dass das Format es angesichts dieser völlig bizarren Ausrichtung dennoch schafft, zumindest sich selbst ernst zu nehmen, ist fast schon bemerkenswert. Denn schließlich führt man hier die Aufgabe, die der Titel «Deutschland sucht den Superstar» eigentlich vorgibt, nämlich die Suche nach einem Superstar, dessen vorherrschende Kompetenz der tolle Gesang sein soll, vollkommen ad absurdum. Stattdessen pocht man auf die Girlie-Girls, die für die heißen Typen anrufen sollen, ganz egal, ob sie singen können oder nicht.
Man mag anführen, dass „das Menschliche“ auch bei anderen (und deutlich besser gemachten) Casting-Shows eine Rolle spiele. Etwa bei «Unser Star für Oslo/Baku». Doch es gibt einen großen Unterschied. Denn während man in Stefan Raabs Sendung die Kandidaten sich selbst sein und sich so präsentieren lässt, wie sie es wollen, geht das bei «Deutschland sucht den Superstar» gänzlich anders vonstatten. Bei ProSieben scheint man es den Teilnehmern zu überlassen, wie viel sie von ihrem Privatleben preisgeben möchten, was in der Regel nicht allzu viel ist. Bei RTL sind tränenerstickte Interviews um tragische Verluste und schwere Krankheiten die Regel. Man erzählt Geschichten über den armen Jungen, der seine Eltern verloren hat, über das arme Mädchen, das an einer schweren Krankheit leidet. Im Lauf der Jahre hat sich dieses Element zu einem Eckpfeiler des Formats entwickelt. Mittlerweile erhebt sogar einer der Kandidaten der derzeitigen Staffel den Vorwurf, dass die Produzenten die Geschichte um seine Krankheit „viel zu sehr aufgebauscht“ hätten. Todkrank, wie dies in der Sendung behauptet wurde, sei er nämlich gar nicht.
Der zweite Eckpfeiler der Show ist wohl das, was Dieter Bohlen „das Stylische“ nennt. Der zweite Grund, warum man Bruce Darnell rangekarrt hat. Was RTL so darunter versteht, sah man letzten Samstag sehr gut, als der Kandidat Joey Heindle mit nacktem Oberkörper auf der Bühne stand. Dem Berliner Kurier soll er nach seinem Auftritt folgendes Statement gegeben haben: „Eigentlich wollte ich das nicht, aber habe das gemacht, weil der Regisseur das wollte.“ Das sind klare Worte.
Wenn schon die Stimme nicht für einen abendfüllenden Auftritt reicht, was hier oft der Fall ist (nach «The Voice of Germany» und «Unser Star für Baku» ist man schließlich auch hierzulande verwöhnt, was musikalische Qualität angeht), muss eben der durchtrainierte Waschbrettbauch herhalten, um die Quote hochzutreiben und die Girlie-Girls zum Anrufen zu bewegen. Leute, die eigentlich, so doch immerhin das Konzept der Sendung, durch gesangliches Können überzeugen sollen, werden zum bloßen Eyecandy degradiert, zur scharfen Muskelmasse. Dass hier immer noch gesungen wird, ist fast schon bizarr. Schließlich spielt Gesang in dieser Sendung eigentlich keine Rolle mehr – weder für die Macher noch für die meisten Zuschauer. Am Schluss gewinnt der sympathische Typ mit dem Herz aus Gold, der sein Leben den Kameras ausliefert, den Seelenstriptease am gelungensten und schlagzeilenträchtigsten vollführt und von Dieter Bohlen gemocht wird. Und natürlich „das Stylische“ im Griff hat.
Dass es auch anders geht, sieht man bei der Konkurrenz. Lena Meyer-Landrut hätte «Unser Star für Oslo» wohl auch gewonnen, wenn sie sich einen IKEA-Teppich umgeworfen hätte. Roman Lob ging als Sieger der diesjährigen Inkarnation hervor, ohne über sein Privatleben zu sprechen. Aus Ivy Quainoos persönlichem Umfeld ist ebenfalls nicht allzu viel bekannt – und das, obwohl «The Voice of Germany» massiv mit der „Bild“ kooperiert hat. Wenig überraschend, ist Schwartzkopff TV schließlich eine hundertprozentige Tochter der Axel Springer AG.
Welche Konsequenzen es hat, wenn man vorgeht wie «Deutschland sucht den Superstar» sah man am Resultat der dritten Mottoshow: Die beste Sängerin fliegt raus, der attraktive Oben-Ohne-Junge, dessen gesangliche Leistung man freundlich formuliert eher als „so mittel“ bewerten würde, blieb drin. Auch bei «The Voice» und «Unser Star für Oslo/Baku» entschieden zwar die Sympathien der Zuschauer. Doch die basierten anders als bei «DSDS» nicht auf dem Empathie- oder Wow-ist-der-süß-Effekt, sondern entweder rein auf dem gesanglichen Können oder auf dem Gesamtpaket, das einen Künstler ausmacht. Einen Künstler wohlgemerkt. Nicht das Produkt einer televisionären Ausschlachtungsmaschinerie, die jeden Schritt kontrollieren und ein bestimmtes Image aufbauen will, um das, was daraus entsteht, ohne Rücksicht auf Verluste schnellstmöglich zu Geld zu machen. Während man als Teilnehmer bei «Unser Star für Oslo/Baku» seine Individualität nicht nur behalten, sondern auch leben kann (Diesen Eindruck gewinnt man zumindest am Bildschirm), wird man bei «Deutschland sucht den Superstar» zur Type degradiert, soll Erwartungen erfüllen, die die Zielgruppe stellt, soll entweder persönliche Ecken und Kanten für eine bessere Massentauglichkeit ablegen oder hochstilisieren. Dass man dann im Klischee-Transen-Outfit, oben ohne oder wie bei der 16-jährigen Fabienne Rothe mit bunten Lollipops fürs Lolita-Image auf die Bühne befördert wird, ist eine direkte Konsequenz davon. Die Kandidaten sind keine Menschen mehr, sondern werden zu klar ausgerichteten Produkten: zum attraktiven Sunnyboy, zur 16-jährigen Lolita, zur Transe. Klischees werden restlos ausgereizt, der Versuch unternommen, ein perfekt kalkuliertes Image aufzubauen, in dem kein Platz mehr für Authentizität ist. Die Kandidaten werden nicht gefördert, sie werden vermarktet – und dabei von der gut geölten Maschine «DSDS» hemmungslos verbraten bis der nächste Superstar gefunden ist, bei dem das Spiel dann von vorn losgeht.
Bis die Maschine dann irgendwann einmal explodiert.
Mit 360 Grad schließt sich auch nächsten Freitag wieder der Kreis.