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360 Grad: Are They Ready?

Der «ESC» rückt näher. Wie wird man mit der politischen Lage im Gastgeberland Aserbaidschan umgehen müssen?

Der «Eurovision Song Contest» war schon immer eine völlig unpolitische Veranstaltung. Das hat auch seinen Sinn, wurde der erste Sänger- und Komponistenwettstreit doch in der unmittelbaren Nachkriegszeit ausgetragen, in einem zweigeteilten Europa, das noch lange brauchen würde, um zueinanderzufinden, und nur ein Ziel hatte: nie wieder Krieg.

In diesem Jahr könnte es schwierig werden, dem Anspruch, ein unpolitischer Wettbewerb sein zu wollen, gerecht zu werden. Denn Aserbaidschan ist kein demokratisches Land. Nicht einmal ansatzweise. Berichte um Zwangsräumungen von Häusern in der Nähe der Baustelle der Crystal Hall, in der der «ESC» im Mai stattfinden soll, machen die Runde. Die amerikanische Menschenrechtsorganisation „Freedom House“ klassifizierte das Land in ihrer 2009 veröffentlichten Studie „Freedom in the World“ als unfrei. Internationale Wahlbeobachter stellen in schöner Regelmäßigkeit gravierende Mängel fest. Trotz massiver Proteste von Human Rights Watch, des europäischen Parlaments und von Amnesty International wurden im März letzten Jahres zwei oppositionelle Aktivisten nach dubiosen Verfahren zu Haftstrafen verurteilt. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs aus Korruption, Unterdrückung und Wahlbetrug. Da fällt es schwer, einen auf „Friede, Freude, Eierkuchen“ zu machen.

Wolfgang Grenz, Generalsekretär von Amnesty in Deutschland, findet klare Worte: „Es darf nicht sein, dass das Gastland den Teilnehmern des «Eurovision Song Contest» sowie einreisenden Journalisten Meinungsfreiheit zusichert, aber gleichzeitig die eigene Bevölkerung unterdrückt und ihr grundlegende Menschenrechte verweigert.“ Ein valides Statement. Denn in der Tat wird man an den desaströsen Zustände in dem Land, in dem der «ESC» in diesem Jahr ausgetragen wird, nicht vorbeikommen, sofern man nicht völlig ignorant sein will und das ganze Unterfangen zur Farce verkommen soll. Doch das führt uns schon zur nächsten, deutlich schwierigeren Frage: nämlich inwiefern die desolate politische Lage dieses Staates im Hintergrund dieser Großveranstaltung eine Rolle spielen kann und muss.

Boykottaufrufe gibt es bisher nur aus den entlegensten Lagern (zumindest in Deutschland). Das wäre auch der falsche Ansatz. Denn wenn man ein Land in die EBU aufnimmt (wie Aserbaidschan im Jahr 2007, als man von einem demokratischen Staatswesen ziemlich genauso weit entfernt war wie heute) und es am «Eurovision Song Contest» teilnehmen lässt, muss man es auch mittragen, wenn es im Falle des Sieges regelkonform die nächste Runde ausrichtet. Jetzt einen Rückzieher zu machen, weil einem urplötzlich einfällt, wie es in diesem Land so zugeht, wäre nichts anderes als scheinheilig – denn das wusste man vor vier Jahren ebenso gut wie heute.

Dass man in den drei im Mai stattfindenden Shows wenig mehr von Aserbaidschan mitkriegen wird als das, was die aserbaidschanische Diktatur uns zeigen will, muss ebenso klar sein. Man wird uns eine Postkartenidylle präsentieren, mit malerischen Stränden, imposanten Bauten und einem Touch Verklärung auf die ach so glorreiche Geschichte des Landes. Die EBU wird den Teufel tun und etwas dagegen unternehmen, hat sie doch in der Vergangenheit mehrmals gezeigt, dass sie jegliche Art von Politisierung des Wettbewerbs für inakzeptabel hält.

Es ist dieselbe Zwickmühle, in der man sich 2008 bei den Olympischen Spielen in China befand. Der Wettbewerb an sich ist so unpolitisch wie man es nur sein kann, das Umfeld jedoch verlangt es, die politische Lage in den Kontext miteinzubeziehen. Und das kann nur durch die Berichterstattung geschehen, da alle anderen Instanzen (teilweise auch mit gutem Grund) ausfallen. Dieses Jahr ist die Notwendigkeit einer kritischen Presse vor Ort, die willens ist, sich mit den entsprechenden Umständen auf relevante Weise auseinanderzusetzen, viel nötiger als in den vergangenen Jahren. Denn die aserbaidschanische Regierung wird alles in ihrer Macht Stehende tun, um die internationalen Journalisten in ihrem Sinne zu funktionalisieren. Deswegen muss umso intensiver gegengesteuert werden. Der «Eurovision Song Contest» selbst mag abseits jedweder politischen Ideologie funktionieren. In der Berichterstattung über ihn dürfen die politischen Hintergründe jedoch nicht außer Acht gelassen werden.

Die Möglichkeit, dass sich ein diktatorisches Staatssystem im Lichte einer solchen internationalen Großveranstaltung, in deren Zuge der Blick der ganzen Welt auf die dortigen Machthaber fällt, zumindest in Ansätzen öffnen könnte, mag man als weltfremde Idiotie verwerfen. Ein erster Schritt in Aserbaidschan ist aber vielleicht schon gemacht: Denn anders als erste Berichte nach dem Sieg des Landes im letzten Jahr verkündet haben, wird auch eine Delegation aus dem verfeindeten Armenien am diesjährigen «Eurovision Song Contest» teilnehmen. 2009 waren noch aserbaidschanische Bürger, die für Armenien im damaligen Wettbewerb angerufen haben, vom Ministerium für Nationale Sicherheit verhört worden. Die EBU sprach daraufhin gegen den Sender Ictimai Televiziya Sanktionen aus.

Der Wettbewerb an sich mag zwar unpolitisch sein – das ist auch gut so. Nur die Berichterstattung über ihn darf die politische Lage nicht außen vor lassen, in der Befürchtung, den Burgfrieden zu stören oder als Gutmensch abgetan zu werden (ohnehin mal wieder ein typisch deutsches Wort für jemanden, der etwas sagt, das man nicht hören will). In einer Demokratie darf man streitbar sein. Schade, dass sich das die Aserbaidschaner selbst noch nicht erlauben können.

Mit 360 Grad schließt sich auch nächsten Freitag wieder der Kreis.
24.02.2012 00:00 Uhr Kurz-URL: qmde.de/55150
Julian Miller

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360 Grad

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