Wir blicken zurück auf die erste Staffel von «The Voice of Germany». War das Konzept die große Revolution des Casting-Genres, die uns im Vorfeld versprochen wurde? Und ist Ivy Quainoo die verdiente Gewinnerin? Eine Analyse von Julian Miller.
Mit «The Voice of Germany» hatten uns die Macher nicht weniger als eine Revolution des Casting-Genres in Deutschland versprochen. Vom Anspruch, einen Künstler zu finden, der im Musikgeschäft über Jahre Erfolg haben soll, war die Rede. Wie in den USA und den Niederlanden sollte die Sendung ein Paradigmenwechsel werden und den Zuschauern ein radikales Gegenangebot zu «Deutschland sucht den Superstar» und dem «Supertalent» bieten, in dem es um die Stimme und nicht um PR-Gefuchtel um persönliche Abgründe, Schwächen und schwierige Lebensphasen gehen sollte.
Daran hat man sich auch gehalten. In der Sendung selbst ging es primär um das gesangliche Können der Teilnehmer, auch wenn man in der Phase der Blind Auditions noch hier und da ein paar Homestories fabriziert hat, die jedoch anders als bei den vergleichbaren RTL-Formaten nicht darauf aus waren, den Zuschauern traurige Geschichten mit möglichst viel Schnief-Schnief aufzutischen. Die großen Boulevardzeitungen haben «The Voice of Germany» natürlich anders begleitet. Die Aufmacher waren Geschichten um Percival Dukes angebliche Wutausbrüche in einem Berliner Hotel. Das ist nichts Neues, kennt man die Herangehensweise doch schon von «X Factor», wo es Zeitungen wie der „Bild“ erwartungsgemäß eher darum geht, ob eine der Teilnehmerinnen „ihre kaputte Familie glücklich singen“ kann, anstatt auf eine halbwegs sinnvolle Weise über die Shows zu berichten. «The Voice of Germany» kann man dies jedoch nicht zum Vorwurf machen, schiebt man sendungsintern der voyeuristischen Ausschlachtung familiärer Abgründe einen Riegel vor, was bei «X Factor» in Anbetracht der vielen Einspielfilmchen nicht gänzlich der Fall ist.
Inwiefern «The Voice of Germany» aber eine Revolution des Casting-Genres war, ist sicherlich ein Streitthema. Denn anders als in den USA oder England gibt es in Deutschland bereits eine Sendung, die Künstler als solche ernst nimmt und sich auf ihre gesanglichen Qualitäten konzentriert anstatt auf den schnellen Skandal oder das Ablichten leicht bekleideter Anfang-Zwanzigerinnen an malerischen Stränden, die dann vor Dieter Bohlen und Bruce Darnell noch ein Liedchen singen dürfen. Diese Sendung heißt «Unser Star für Oslo/Baku». Im Vergleich zu «The Voice of Germany» geht es in Stefan Raabs Casting-Show, wie er selbst erläuterte, zwar nicht allein um die Stimme, sondern um das Gesamtpaket aus gesanglichem Können, Bühnenpräsenz, Charme und Individualität – doch die grundsätzliche Prämisse, einen Künstler zu finden, der lange Jahre in der Branche erfolgreich bleiben soll und sich nicht zu irgendwelchen Boulevardsumpf-Spielchen um die medienwirksame Ausschlachtung gescheiterter Beziehungen oder verstorbener Angehöriger herablassen muss, ist identisch.
Noch vor der Premiere erklärte Rea Garvey den Unterschied zwischen «The Voice of Germany» und anderen Casting-Shows kurz und prägnant mit: „Wir sind gut und die anderen sind scheiße.“ Wenn man «Unser Star für Baku» und in Teilen noch «X Factor» aus dieser Gleichung herausnimmt, kann man ihm hier kaum widersprechen.
Zu Beginn waren es natürlich die Blind Auditions und Battle-Shows, die viele Zuschauer anzogen. Nicht nur wegen des bisher in Deutschland nicht dagewesenen hohen gesanglichen Niveaus der Teilnehmer, sondern auch wegen des interessanten Alleinstellungsmerkmals dieses neuen Selektionsverfahrens. Strukturell unterschieden sich die Liveshows dann nicht mehr sonderlich von den entsprechenden Phasen, die «DSDS» auch durchläuft, weswegen sich die Quoten von «The Voice of Germany» zu dieser Zeit auf einem niedrigeren Niveau einpendelten. Doch es steht wohl außer Frage, dass man deutlich bessere Sänger hatte als sie RTL mit seinen bisherigen Mechanismen wohl je finden würde.
Man hat sich vielleicht in den letzten Wochen keinen Gefallen getan, indem man mit Rino Galiano und Percival Duke zwei Favoriten rausgeworfen hat, deren gesangliches Talent das von manchen Finalisten noch überstieg. Qualitativ setzte das Finale von «The Voice of Germany» trotzdem neue Maßstäbe im deutschen Fernsehen.
Auch wenn Michael Schultes (Platz 3) eigener Song „Carry Me Home“ wenig Besonderes an sich hat und für manche Geschmäcker vielleicht doch zu eintönig komponiert ist, konnte er am vergangenen Abend vollends überzeugen – insbesondere natürlich durch sein Duett mit Rea Garvey, in dem die beiden eine sehr rockige Version von „Feeling Good“ sangen.
Doch am Schluss war es erwartungsgemäß Ivy Quainoo, die alle anderen überstrahlte. Ob mit der Präsentation ihrer Single „Do You Like What You See“ (eine Nummer, die deutliche Parallelen zu den Soundtracks von James-Bond-Filmen aufweist und somit perfekt zu ihr passt) oder im Duett mit ihren Mentoren The BossHoss – nicht nur hat sie hervorragende stimmliche Qualitäten, sondern auch die Interpretationen ihrer Songs haben stets etwas Neues an sich, einen ganz besonderen persönlichen Touch. In Erinnerung bleiben wird wohl vor allem ihr Duett mit Florence and the Machine, in dem die beiden eine kraftvolle Interpretation von „Shake It Out“ präsentierten, welche mit dem Niveau, das amerikanische Casting-Shows in ihren finalen Sendungen anschlagen, locker mithalten kann.
Ihr Sieg will aber nicht heißen, dass die Karrieren ihrer Mitstreiter nun auf Null zurückgesetzt sind. Denn der Zweck der Show ist aus Künstlersicht nicht in erster Linie die Platzierung an der absoluten Spitze. Es ist schon eine Leistung, sich wochenlang im Fernsehen einem Millionenpublikum präsentieren zu können. Auch daraus lassen sich lange und erfolgreiche Karrieren bauen. Dia Frampton, die Zweitplatzierte der ersten Staffel der amerikanischen Version, ist hier ein gutes Beispiel. Am Ende der Show machte Xavier Naidoo auch den letzten vier Talents hierzulande Mut: „Nicht nur einer von euch wird seinen Weg machen.“
Inwiefern «The Voice of Germany» das Casting-Genre im deutschen Fernsehen revolutionierte, lässt sich abschließend nicht eindeutig bewerten. Eines steht jedoch außer Frage: nämlich dass die Sendung zweifellos eine Bereicherung der hiesigen Fernsehlandschaft ist.