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Die Kino-Kritiker: «Tag und Nacht»

Das österreichische Drama «Tag und Nacht» erzählt von zwei jungen Frauen, die sich ihr Studium finanzieren, indem sie sich einem Escort-Service anschließen.

Die jungen Wienerinnen Lea (Anna Rot) und Hanna (Magdalena Kronschläger) suchen nach neuen Wegen, um Geld zu verdienen. Auf die typischen Studentenjobs wie Kellnern haben sie keine Lust, zumal man für diese Nebentätigkeiten ja Steuern zahlen muss. Schließlich kommt den langjährigen Freundinnen die Idee, sie könnten bei einem Escort-Service anheuern. Ihr scherzhafter Gedankengang: „Wenn wir eh schon schlechten Sex haben, können wir uns dafür in Zukunft auch bezahlen lassen.“ Sie kommen beim mittelständischen Escort-Service „Tag und Nacht“ unter und erhalten auch Ratschläge für den Umgang mit Kunden. So sollten sie ein Parfüm verwenden, das zu ihrer Bodylotion passt, anderes würde die Kunden nur verwirren. Dies beherzigend stürzen sich Lea und Hanna schnell in das erwartete sexuelle Abenteuer. Obwohl sie es mit manchen seltsamen Wünschen seitens der Freier zu tun haben, nehmen die Studentinnen ihre neue Tätigkeit mit Humor. Doch die Prostitution legt ihren ernst gemeinten Beziehungen zunehmend Steine in den Weg, und auch ihre Freundschaft wird durch das aufzehrende Doppelleben belastet ...

Die österreichische Regisseurin Sabine Derflinger befasst sich in «Tag und Nacht» filmisch mit einer Thematik, die in Buchform seit einigen Jahren vielfach ausdiskutiert wurde. In zahlreichen Sachbüchern und autobiographischen Romanen gestanden junge Frauen, dass sie sich ihr Studium durch Prostitution finanzierten. Diese Tatsachenberichte lassen Derflinger und ihre Co-Autorin Eva Testor weitestgehend links liegen, um eine eigene, fiktive Charakterstudie zu zeichnen. Die beiden Protagonistinnen Lea und Hanna bleiben dem Zuschauer allerdings vollkommen unerschlossen. Es ist nicht das Versagen der Hauptdarstellerinnen Rot und Kronschläger, welche die Neurosen und Genüsse ihrer Figuren sehr natürlich darbieten und durch sympathischen Humor das Zuschauerinteresse aufrecht erhalten. Jedoch bekommen die zwei Actricen vom Drehbuch zu wenig Charaktergrundlage geliefert, um ihre Figuren über eine schemenhafte Abgrenzung voneinander hinaus abzurunden. Zwei Freundinnen, eine etwas lebhafter, die andere etwas schüchterner – weiter reicht die Charakterisierung von «Tag und Nacht» nicht.

Da Derflingers dramaturgisches Hauptaugenmerk darauf liegt, wie sich Lea und Hanna durch die Prostitution verändern, resultiert der Mangel an Charakterisierung in zahllosen ungeklärten Fragen. Irgendwann im Laufe der Handlung kommt der Punkt, an dem Lea und Hanna die sexuelle Ausbeutung durch ihre Freier nicht mehr als kuriosen Spaß oder emotional unbelastende Arbeit ansehen. Derflinger versäumt es, diese Entwicklung als schleichenden Prozess zu skizzieren, sodass «Tag und Nacht» eigentlich einen großen Wendepunkt aufweisen müsste, von dem an sich alles zum Schlechten wandelt. Dieser Punkt bleibt ebenso aus wie eine schlüssige Erklärung, weshalb Lea und Hanna keinen Absprung aus dem Rotlichtmilieu wagen, sobald es ihnen zu viel wird. Es ist nämlich nicht so, als hätten sie keine andere Wahl, als sich zu prostituieren, und einen herrischen, einschüchternden Zuhälter sucht man in «Tag und Nacht» vergebens. Was also hält sie in ihrer Zwickmühle, die nüchtern betrachtet keine ist, gefangen?

Das 2010 produzierte, österreichische Drama bleibt aufgrund seiner lückenhaften Figurenzeichnung wirkungsarm. Die verdichtete Inszenierung, die sich nicht davor scheut, den glanzlosen Sex abzubilden und der es dennoch gelingt, nicht sexuell ausbeuterisch zu wirken, mag in ihrer Trostlosigkeit anfangs effektiv sein. Doch die erste Stunde des Films reiht zu viele bizarre, in heutigen Zeiten aber mit ihrer verbitterten Quirligkeit jedoch nicht schockierende, Sexualakte aneinander, als dass um Ausschimpfungen flehende Freier oder ein Lyrik zitierender Opa in Strapsen noch irgendeine Zuschauerreaktion auslösen könnten.

Somit ist «Tag und Nacht» in seiner direkten und ungekünstelten Art vielleicht realitätsnah, bloß macht dies allein kein sehenswertes Drama aus. Ohne greifbare Charakterkonflikte könnte bestenfalls eine einvernehmende Stellungnahme zur grundlegenden Thematik «Tag und Nacht» helfen, sein Publikum zu finden. Da sich das Drehbuch aber einer klaren Position verweigert, ist «Tag und Nacht» aber nicht einmal viel Lärm um Nichts. Schließlich bemüht sich die Regie zu sehr, um durch eine gedämpfte Tonlage den Anschein des Anspruchs zu wahren.
18.01.2012 10:00 Uhr Kurz-URL: qmde.de/54425
Sidney Schering

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Kino-Kritiker Tag und Nacht

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