Nach den ersten beiden Live-Shows, in denen sich die Teilnehmerzahl der Teams von Xavier Naidoo, The Boss Hoss, Nena und Rea Garvey deutlich verringert hat, geht Julian Miller der Frage nach, ob die hohe Qualität der Sendung auch nach den Blind Auditions und Battle-Runden immer noch vorhanden ist.
Zweifellos ist «The Voice of Germany» wohl die beste Casting-Show, die es im deutschen Fernsehen gibt, denn das Niveau der Teilnehmer ist mit Abstand das höchste, das man hierzulande bisher gesehen hat.
Ein paar kleinere Schönheitsfehler gab es zumindest in den Battle-Runden der letzten Wochen dennoch. Auffallend ist etwa, dass Schwartzkopff TV-Chef Karsten Roeder im Vorfeld der Sendung überschwänglich ankündigte, dass in seiner Show kein Talent einen Song singen müsse, den es nicht singen will. Andere Erfahrungen scheint da zumindest Charlie Waldschmidt gemacht zu haben, die in der dritten Battle-Sendung zusammen mit ihrem Co-Teilnehmer C. Jay den Song „Kids“ präsentierte, von dem sie aber nach ihrem Auftritt sagte, dass sie ihn „von Anfang an“ gehasst habe. Dass es „nicht unbedingt“ ihr Song war, gaben auch ihre Coaches The Boss Hoss zu – bei «The Voice of Germany» ist man also wenigstens ehrlich. Auch wenn dieser Faux-Pas den Gesamteindruck der Sendung sowie der Kompetenz der Jury nicht wesentlich schmälert und es sich hier lediglich um einen einzelnen Ausrutscher handeln dürfte, so ist er doch ein kleiner Wermutstropfen im Meer eines hervorragenden Konzepts, auf den man hätte verzichten können.
Ab und an gibt es auch in dieser Sendung ein paar Zeitlupen und das jubelnde Publikum wirkt bei manchen Auftritten recht wahllos zugespielt, wodurch der Verdacht entsteht, dass die gezeigten Zuschauerreaktionen nicht unbedingt die sind, die es bei den Aufzeichnungen der Battle-Sendungen tatsächlich gegeben hat. Aber all das fällt hier weniger ins Gewicht als etwa beim «Supertalent», geschieht dies bei «The Voice of Germany» doch deutlich seltener und dezenter. In Dieter Bohlens Sendungen dominiert dagegen die restlose Ausschlachtung jedes noch so banalen Moments, die Demütigung, der Vorführeffekt, die Schaffung von „Bild“-gemäßen Fallhöhen und die gänzlich hemmungslose Emotionalisierung.
Womit «The Voice of Germany» aber wirklich alle Erwartungen übertreffen konnte ist die Qualität der Kandidaten. Es handelt sich hier wohl um das erste Franchise seines Genres, dessen deutscher Ableger diesbezüglich auch mit dem Niveau der US-Version mithalten kann (vom Vergleich zwischen «Deutschland sucht den Superstar» und «American Idol» sind wir das genaue Gegenteil gewohnt). Sicher ist dafür maßgeblich verantwortlich, dass die Kandidaten hier wesentlich größere Freiräume zu genießen scheinen als bei anderen Casting-Shows und der konzeptionelle Kern nicht auf der auf reibungslose Massentauglichkeit getrimmten Vermarktung der Teilnehmer liegt.
Klar, dass sich bei dem hohen Niveau der letzten Wochen die Frage stellte, ob sich die gesanglichen Leistungen in den Live-Shows auf dem zuvor angeschlagenen Level aufrecht erhalten lassen würden. Denn die Gefahr, dass alles auseinanderfallen könnte, bestand angesichts der konzeptimmanenten Abwendung vom Alleinstellungsmerkmal der Blind-Auditions und Battle-Runden hin zur Live-Atmosphäre, die sich in ihrer Essenz von anderen Casting-Shows auch nur bedingt hätte unterscheiden können, durchaus.
Doch dazu kam es glücklicherweise nicht. Denn auch wenn ein paar vereinzelte Teilnehmer in dieser neuen Herausforderung nicht vollends überzeugen konnten und manchmal auch nicht gerade wenige schiefe Töne von sich gaben, war noch immer mehr als eine Handvoll herausragender Künstler dabei, deren Perfomances als beispielhaft gelten können – mehr Teilnehmer im absoluten Spitzenbereich hatte die US-Version auch nicht.
In der ersten Live-Sendung von «The Voice of Germany» waren es gewissermaßen die üblichen Verdächtigen, die man schon aus den Blind Auditions immer noch im Gedächtnis hatte und die nun auch live die Bühne noch etwas mehr gerockt haben als ihre Teilnehmerkollegen: Rino Galiano etwa, bei dem Rea Garvey schon nach seiner ersten Zeile gebuzzert hatte und ihn dadurch in sein Team holen wollte, konnte das Publikum mit einer erstaunlichen Darbietung von „How Deep is Your Love?“ beeindrucken. Aus dem Team von The Boss Hoss hat insbesondere Ivy Quainoo die Zuschauer mit einer hochinteressanten Interpretation von „Toxic“, die wesentlich ruhiger ausfiel als das Original von Britney Spears, zum Telefonieren animieren können. Nicht zu vergessen natürlich auch der Auftritt von Max Giesinger, dem allerdings immer wieder die sehr laute Backline in die Quere kam.
Ebenso konnte die zweite Live-Show mit hervorragenden Darbietungen aufwarten. Jasmin Graf gehört vielleicht erst seit dieser Ausgabe mit ihrer gewaltigen Stimme zu den Frontrunners in Reas Team, während sich Yasmina Hunzinger durch ihre kraftvolle gesangliche Performance ohne Frage mit ihren amerikanischen Kollegen messen lassen kann. Gleiches gilt für den letzten Kandidaten, der in der zweiten Live-Show die Bühne betrat: Percival Duke, der als wahrlich exzellenter Musiker (vielleicht sogar von Weltrang) wohl der klare Favorit auf den Sieg ist. Doch das waren lediglich die absoluten Highlights und einen wirklichen gesanglichen Ausrutscher nach unten gab es in beiden Sendungen zusammengenommen lediglich einmal.
Angesichts der ansonsten schon bombastischen Show (für die Bühne wurden keine Kosten und Mühen gescheut – das Ergebnis kann sich sehen lassen) war Stefan Gödde wohltuend zurückhaltend, auch wenn das heißen mag, dass er letztlich wenig mehr als ein Telefonnummernansager war und seine einzige Aufgabe gegen Ende der Sendung darin bestand, die ohnehin mit über drei Stunden Laufzeit schon sehr langen ersten beiden Live-Shows noch mehr in die Länge zu ziehen. Doch anders als Marco Schreyl verschwindet Gödde ansonsten im Hintergrund und hat nichts an sich, was man ihm als Penetranz auslegen könnte. Es mag perfide klingen – doch das sind eigentlich die idealen Voraussetzungen für die Moderation einer solchen Sendung, die Gödde ausnahmslos erfüllt.
«The Voice of Germany» bleibt also auch in der Live-Phase seinem Konzept treu: Die Stimme steht im Zentrum, niemand wird gedemütigt und die Darstellung der persönlichen Lebensgeschichten der Kandidaten begrenzt sich auf ein Minimum und man scheint es den Teilnehmern selbst zu überlassen, was sie aus ihrem privaten Raum öffentlich preisgeben wollen.
Das krasse Gegenteil können wir schon heute wieder sehen. Dann startet um 20.15 Uhr die neue Staffel von «Deutschland sucht den Superstar» bei RTL. Mit Bruce Darnell in der Jury, der laut Dieter Bohlen „für das Menschliche und Stylische“ zuständig ist. „Denn Aussehen und Auftreten werden immer wichtiger“. Da hat wohl jemand immer noch nicht verstanden, wie man wirklich talentierte Künstler findet, die auch die Chance haben, länger als ein halbes Jahr in den Charts zu überleben. Bei «The Voice of Germany» kann man diesbezüglich dagegen mit gutem Grund optimistisch sein. Denn man liefert nicht nur eine hervorragende Show, sondern übernimmt auch Verantwortung für die teilnehmenden Künstler und gibt ihnen die Freiheiten, um die Weichen für ihre weiteren Karrieren möglichst eigenständig zu stellen.