In Holland war die Show ein Straßenfeger, in den USA ein Lichtblick für den von Flops gebeutelten Sender NBC. Dabei machte «The Voice» seinem Namen stets alle Ehre und stellte die Stimme ins Zentrum.
Größer hätte man die Erwartungshaltung gar nicht aufbauen können. «The Voice of Germany» soll da beginnen, wo «Deutschland sucht den Superstar» und «Das Supertalent» aufhören, eine neue Etappe in der ohnehin bereits übersättigten Castinglandschaft Deutschlands einleiten. Schon vor Monaten kündigte John de Mol an, dass man den Anspruch habe, einen Künstler zu finden, der jahrelang im Musikgeschäft erfolgreich sein soll. Man will eben nicht irgendeinen Hampelmann auf die Bühne zerren, der auf Mallorca das bierselige Publikum, dem ohnehin schon alles egal ist, zum Saufen animieren und vom Randalieren abhalten soll und froh sein kann, wenn er dann nicht ausgebuht wird. Diese Herangehensweise steht etwa in krassem Gegensatz zu der eines Detlef D! Soost, der einst auf die Frage, weswegen die meisten Bands, die aus dem «Popstars»-Umfeld entstehen, sich nicht selten recht bald wieder auflösen, antwortete, dass das eben der normalen Halbwertszeit einer Band entspreche. John de Mol und Schwartzkopff TV-Chef Karsten Roeder wollen mehr leisten als das und sich nicht damit zufrieden geben, einen Otto-Normal-Retortensänger zu pushen.
Das Team um «The Voice» will die Stimme ins Zentrum stellen, nicht tragische Familiengeschichten, den Bohlen'schen Niedermetzeleffekt oder ein bizarres Kuriositätenkabinett. Das sind die großen Töne, die die Macher des Formats im Vorfeld angeschlagen haben, und an denen sich die Premiere nun messen lassen muss, vor allem nachdem in der niederländischen und amerikanischen Version der Show diesem Konzept vollends Rechnung getragen wurde.
Den Mund zu voll genommen hat vielleicht Xavier Naidoo mit seiner Behauptung, dass man in Deutschland sogar stärkere Sänger gefunden habe als in den USA. Denn zumindest in der Premierenfolge konnte man noch keine Beverly McClellan, keine Dia Frampton und keinen Javier Colon finden. Doch was nicht ist, kann immer noch werden. Insofern wäre es viel zu verfrüht und ungerecht, Naidoos Statement jetzt schon Lügen zu strafen.
Verstecken brauchen sich die ersten Entdeckungen der Show jedenfalls wahrlich nicht. Insbesondere der 35-jährige Exzentriker Perceval, der bereits vier Plattenverträge hinter sich und in der Vergangenheit schon mit Michael Jackson und Cher zusammengearbeitet hat, berauschte das Publikum und die Jury mit einer großen Stimme, von deren Kaliber man bei den meisten anderen Casting-Shows des Landes nur träumen kann. Auch Charles Simmons, seines Zeichens Dozent an der Mannheimer Popakademie und Vocal Coach, klang schon bei seiner Blind Audition sehr vielversprechend. Eine Sternstunde der Sendung war auch der Auftritt des 36-jährigen Rino Gallano, der mit einer berührenden Interpretation von „You Give Me Something“ die Jury überzeugen konnte.
Deutlich mehr als nötig und auch ausufernder als in der US-Version der Show beackert man jedoch die persönlichen Hintergründe der meisten Kandidaten. Man stellt ihre Mütter und Freunde vor, Kamerateams besuchen sie zu Hause und drehen kurze Einspielfilmchen über ihre Freizeitaktivitäten. Das muss man vielleicht als eine kleine Anbiederung an die deutschen Casting-Show-Sehgewohnheiten auffassen, die von der jahrelangen «DSDS»- und «Supertalent»-Berieselung etwas verkommen sind. Doch anders als bei RTL kommt die Beleuchtung des Privatlebens der Sangeskünstler bei «The Voice of Germany» ohne eine gezielt voyeuristische Ausschlachtungsgeilheit aus, verzichtet auf das Zurschaustellen intimster Familienzwiste, betont nicht allerorten persönliche Schwächen und Abgründe der Kandidaten. Letzten Endes mag diese Darstellung der persönlichen Lebensumstände der Teilnehmer nicht zielführend sein und vom Kern der Sendung, nämlich den Stimmen, unnötigerweise ablenken; sie führt jedoch nicht dazu, dass die Show qualitativ den Bach runter geht, die Stimmen auf gravierende Weise aus dem dramaturgischen Fokus rutschen würden oder besagte Darstellung gar als verwerflich und ethisch grenzwertig zu werten wäre.
Auch zwei Turteltäubchen gab es in der Premierenfolge, bei denen man auf den ersten Blick ein wenig Angst hatte, dass ProSieben hier Sarah Engels und Pietro Lombardi nachbauen wollte. Da hier allerdings nur der weibliche Part (die 18-jährige Österreicherin Vera Luttenberger; auch sie ist kein Neuling im Musikgeschäft) weiterkam, muss man hier – zumindest nach der ersten Folge – keine Bedenken haben, dass aus «The Voice of Germany» eine Soap wird, wie man es in der letzten «Superstar»-Staffel immer wieder sehen musste.
Deutlich angenehmer als bei der Konkurrenz aus dem Hause RTL fällt auch die Jury aus, die durch einen hohen Sachverstand auffällt und sich stets auf das Wesentliche konzentriert. Dabei kommt es auch schon einmal zu ein paar Kabbeleien (vor allem zwischen Rea Garvey und Xavier Naidoo) um so manchen Kandidaten, die mit großem Eifer ausgetragen werden. Den Coaches kommt keine Abwatsch- und Vorführfunktion zu, sondern die Aufgabe, ihre Schützlinge als Mentoren zu begleiten. Bohlens Respektlosigkeiten haben bei ProSiebenSat.1 offenbar keinen Platz. Und das ist auch gut so.
Das mag auch der ausschlaggebende Punkt sein, warum «The Voice of Germany» teilweise eine andere Teilnehmerklientel anspricht als die meisten anderen Formate desselben Genres. Denn viele der Bewerber waren schon vor ihrer Blind Audition im Musikgeschäft erfolgreich, teilweise gar auf internationalem Niveau. Hier haben sich viele Individuen beworben, unverwechselbare Typen, einige von ihnen mit einem ausgeprägten Hang zum Exzentrischen, was in der bis auf «Unser Star für Oslo» bisher durchgängig recht abgeschmackten Casting-Einheitssängerwelt wohltuend erfrischend ist.
Im Großen und Ganzen konnte die Premiere von «The Voice of Germany» also halten, was die Macher seit Monaten versprechen. Die Stimme steht im Zentrum der Show, niemand muss sich vorgeführt vorkommen und die Talente, die man schon in der ersten Folge fand, sind beachtlich. „Heute ist der Beginn von etwas ganz Großem“, versprach Moderator Stefan Gödde ganz am Anfang der Sendung. Der Satz mag zwar etwas pathetisch sein. Doch die Chance, dass er damit recht hat, ist zweifellos realistisch.