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Am heutigen Mittwochabend, 14. September 2011, um 20.15 Uhr zeigt die ARD den Film «Sie hat es verdient» (wir berichteten). Das Produktionsunternehmen teamWorx hat das Jugenddrama im Auftrag der ARD Degeto in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk hergestellt. Mit kompromissloser Radikalität veranschaulicht der Autor und Regisseur Thomas Stiller darin die Eskalation jugendlicher Gewalt. Wir sprachen mit ihm und den Jungschauspielern Saskia Schindler und François Goeske über den intensiven Spielfilm, der unter die Haut geht.
Nach den S-Bahn-Schlägern von München, den Schul-Amokläufen und den Ausschreitungen in England – wie präsent war oder ist das Thema Jugendgewalt für Sie?
François Goeske: Das Thema ist ja nach wie vor aktuell und schon vor dem Film habe ich natürlich in den Nachrichten davon gehört. Außerdem habe ich noch vor «Sie hat es verdient» zum Thema Jugendgewalt einen Spot für „Human Rights Watch“ gedreht. Das Interesse für die Thematik war also schon lange vor dem Film da. Dabei hat mich vor allem der psychologische Aspekt interessiert, wie ein Mensch dazu kommt, solche Gewalttaten auszuüben, was mich sehr beschäftigt hat. Mich hat das erschrocken, als ich die Bilder aus London sah, wie die Jugendlichen vor laufender Kamera gewaltätig wurden, oder auch die Szenen aus manchen Vororten in Frankreich, wo Autos abgebrannt wurden, waren mir präsent. Ich habe das Glück in München zu wohnen, wo ich mit Jugendkriminalität sehr wenig in Berührung komme. Allerdings habe ich in der Berliner U-Bahn einmal hautnah Jugendgewalt miterleben müssen. Mit meiner damaligen Freudin saß ich in der U-Bahn und musste mitansehen, wie jemandem von anderen Jugendlichen Schuhe und Handy abgezogen wurden. Was mich dabei schockiert hat, ist die Tatsache, dass niemand inklusive mir selbst eingeschritten ist. Man hat gesagt: Schau am besten nicht hin, sonst kommen die auch zu uns und uns passiert dasselbe. Ich war danach so sauer, dass ich in dieser Zwickmühle steckte. Entweder stehe ich auf und sage etwas und gehe ein Risiko ein, dass ich selbst zum Opfer werde, oder ich lasse es geschehen und „gut ist“. Also, das war eine blöde Situation und das Interessante bei «Sie hat es verdient» war, dass meine Rolle in einer ähnlichen Zwickmühle steckt.
Saskia Schindler: Wir haben den Film vor zwei Jahren gedreht. Damals war das Thema schon genauso brisant wie jetzt, auch wenn es derzeit mehr in den Medien behandelt wird. Als ich das Drehbuch gelesen habe, war mir sofort klar: Das ist ein absolut realistischer Vorgang, etwas, wovor man Angst haben muss, etwas, das tagtäglich passieren kann.
Thomas Stiller: Da waren einige Dinge, die mir im Vorfeld aufgefallen sind. Ich habe über alle Weltmeere Sachen mitbekommen, was mich dann dazu motiviert hat, den Film über das Thema Jugendgewalt zu machen. Ausschlaggend waren für mich jeweils die Reaktionen auf die Vorkommnisse, wodurch mir klar wurde, dass man mit dem Thema anders umgehen muss.
Der Film «Sie hat es verdient» wirft Fragen in Bezug auf das Thema Jugendgewalt auf – etwa die Eingangsfrage der Mutter des Opfers (gespielt von Veronica Ferres), warum ihre Tochter sterben musste. Die vage Anwort lautet: Sie hat es verdient. Welche Antworten zum Thema Jugendgewalt gibt der Film Ihrer Meinung nach?
Saskia Schindler: Der Film möchte ja explizit keine Antworten geben. Er möchte nicht sagen, dies und jenes muss geschehen, damit ein Jugendlicher dieses Potenzial an Gewalt nicht aufbieten kann. Im Gegenteil: Er möchte zeigen: Passt auf, das kann in jeder gesellschaftlichen Schicht passieren. Der Film versteht sich daher eher als Warnung, denn das Problem ist ja allgegenwärtig.
Thomas Stiller: Die Fragen stellt sich der Zuschauer individuell. Was wir mit dem Film erreichen können, ist dass man sich die Fragen überhaupt stellt. Welche Antworten man dann findet, ist für jeden verschieden. Der springende Punkt dabei ist aber, dass man sich überhaupt Fragen stellt, sie wirken lässt und dann für sich selbst nach Antworten sucht.
Welche Brisanz steckt für Sie persönlich in der Thematik und dahingehend, wie schwierig ist es, sich diesem Sachverhalt zu nähern?
Saskia Schindler: Gerade die Brisanz der Thematik hat mich bestärkt, die Rolle des Opfers zu verkörpern und diese glaubhaft zu spielen. Dass der Regisseur Thomas Stiller die Geschichte in schonungsloser Härte darstellt, hat mir dabei eher noch geholfen. Ich wollte ein Teil davon sein und als Schauspielerin eben diese Brisanz rüberbringen.
Thomas Stiller: Das war gar nicht schwierig, sich dem Sachverhalt zu nähern. Der Zugang war für mich ganz einfach, weil mich das Thema interessiert hat. Wir haben versucht eine Form zu finden, mit der wir über die Charaktere dem Zuschauer dieses ernste Thema vermitteln können.
Herr Stiller, mit «Sie hat es verdient» haben Sie ein provokantes Drama geschaffen – warum legten Sie den Fokus auf provozierende Bilder?
Thomas Stiller: Da möchte ich Ihnen widersprechen. Der Film ist nicht provozierend, denn wenn man einen Film über Gewalt macht, kann man diese nicht ausklammern. Von daher haben wir versucht die Gewalt auch von allen Seiten zu beleuchten. Es gibt nur einige Szenen, die die Gewalt deutlich zeigen. Sie sind eingebettet in ganz viele Szenen, die versuchen die Menschen und ihre Beweggründe zu zeigen.
Die Gewaltszenen sind dabei aber mit dokumentarischer Handkamera gefilmt worden und wirken auch deswegen authentisch – wie aus dem Leben gegriffen. Ging es grundsätzlich darum, möglichst nah an der Realität zu erzählen?
Thomas Stiller: Die Handkamera war für uns die optimale Filmsprache, um möglichst nah an dem Geschehen zu sein und keinen Abstand zu haben. Die Idee dahinter war, dass man als Zuschauer auch keine Ausweichmöglichkeiten hat, sondern die jeweiligen Situationen mit den Charakteren durchleben muss.
Mit den gestaffelten Rückblenden löst man sich zudem von der üblichen Erzählchronologie – welche Überlegung steckt dahinter?
Thomas Stiller: Der Film springt zwischen verschiedenen Zeitebenen und beschreibt im Grunde zwei Tage; nämlich den Tag der Tat und jenen Tag ein Jahr danach. Wir haben bewusst nicht auf eine chronologische Erzählweise gesetzt, um nicht nur zu zeigen, was passiert, sondern auch die innerliche Zerrissenheit der Figuren in den einzelnen Zeitabschnitten besser beschreiben zu können. Das war die Absicht dahinter.
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