►   zur Desktop-Version   ►

Hot Button verstummt Dienstagnacht nach zehn Jahren

Am Dienstagabend läuft die letzte Call-In-Show des Mitmachsenders 9Live.

In der Nacht zum 1. Juni verstummt bei 9Live der Hot Button. 2001 startete der ursprüngliche Frauensender tm3 mit interaktiven Live-Formaten. Die Ex-MTV-Chefin Christiane zu Salm gilt als Erfinderin des Call-In-TVs und schrieb damit Fernsehgeschichte. Obwohl der Marktanteil des Senders bei überschaubaren 0,1 Prozent liegt, war der Sender lange wirtschaftlich erfolgreich. Da sich „Deutschlands 1. Quizsender“ – so der Senderclaim - durch kostenpflichtige Anrufe finanziert, war man jahrelang unabhängig vom klassischen Werbemarkt.

Am 1. September 2001 wird aus dem ehemaligen Frauen- und Fußballsender tm3 offiziell der Mitmachsender 9Live. In den Anfangsjahren experimentiert kaum ein anderer Fernsehsender kreativer an Call-In-Formaten und polarisiert damit wie kein anderer Mitbewerber: Anlässlich des zweiten Sendergeburtstages schaffen es die Moderatoren Thomas Schürmann, Anna Heesch, Robin Bade, Jörg Dräger («Geh aufs Ganze») sowie Alida Kurras («Big Brother»-Siegerin der 2. Staffel) durch Dauermoderieren mit dem „längsten Fernseh-Quiz“ in das Guinness-Buch der Rekorde. Im März 2004 legt man den Gameshow-Klassiker «Glücksrad»neu auf und engagiert mit Frederic Meisner den original «Glücksrad»-Moderator aus der Sat.1-Zeit. Beim «9Live Tanzmarathon» tanzen zehn Paare um ein Preisgeld von 100.000 Euro. Dabei werden die Zuschauer interaktiv durch ein Voting einbezogen. Im Juli 2001 - also noch zu tm3-Zeiten - geht erstmals Michael Koslar mit «Alles auf Rot» auf Sendung. Sein Nachfolger wird jedoch bald Thomas Schürmann. Mit anfangs simplen Spielen wie „Vier Gewinnt“ („Get 4“) gegen den Moderator oder das „Hamsterspiel“, bei dem der Anrufer tippen muss, in welchen Raum ein Hamster läuft, beginnt das interaktive Fernsehen. Der „Ratefuchs“ wird später als 9Live-Maskottchen eingeführt und als Plüschtier-Trostpreis verschenkt. Aus Kostengründen verschwindet er bald wieder. Mit „9Live Gold“ wird außerdem ein Bonusprogramm für treue Anrufer gegründet. Statt Call-In laufen beim «Neun TV»-Programmfenster ab Herbst 2007 täglich Wiederholungen von ProSiebenSat.1-Produktionen. Neben fiktionalen Programmen wie Telenovelas bekam auch Margarethe Schreinemakers ein TV-Comeback. „Aus Positionierungsgründen“ beendete der Sender im November 2010 «Neun TV», das sich vor allem an Frauen richten sollte.

Mit insgesamt 17,2 Millionen Anrufen erreicht 9Live nach einem Sendejahr 2002 erstmals einen operativen Gewinn, wie 9Live-Geschäftsführerin Christiane zu Salm verkündet: "Damit hat 9Live ein Jahr früher als geplant die Gewinnschwelle erreicht.“ Mit den aktuellen Anrufzahlen liege der Sender über den erforderlichen elf bis zwölf Millionen Anrufen monatlich, die für ein positives Ergebnis vor Steuern, Zinsen und Abschreibungen (EBITDA) notwendig seien. Die Bruttowerbeerlöse lagen im Mai 2002 bei rund 1,7 Millionen Euro. 9Live-Geschäftsführerin Christiane zu Salm dazu: "Transaktionsfernsehen im Unterhaltungsbereich ist der momentan einzige Wachstumsmarkt im deutschen Fernsehen. (…) Der Sender wird Deutschlands erstes werbefreies Fernsehen im kommerziellen Free-TV. Ich denke, das ist angesichts des rückläufigen Werbemarktes eine echte Innovation." Im August 2003 beruft Geschäftsführerin Christiane zu Salm den Programmdirektor Marcus Wolter in die Geschäftsführung, der mittlerweile Geschäftsführer bei der «Big Brother»-Produktionsfirma Endemol Deutschland ist.

Unter Führung vom damaligen ProSiebenSat.1-Hauptaktionär Haim Saban kauft die ProSiebenSat.1 Media AG im März 2005 die Holdinggesellschaft Euvia Media, zu der neben «Sonneklar TV» auch 9Live gehört. Medienmanager Saban verspricht sich damit ein wachstumsstarkes Geschäftsfeld, das den TV-Konzern unabhängiger von den schwächenden klassischen Werbeeinnahmen machen soll. Christiane zu Salm verlässt wenige Monate später den Sender. Dank des Call-In-Booms wird das TV-Geschäftsmodell von zahlreichen Sendern kopiert. Ab Sommer 2009 setzt ProSiebenSat.1 in sogenannten «Quizbreaks» während Werbepausen auf kürzere Call-In-Sendungen und füllt damit auch eher werbeschwache Sendezeiten in der Nacht bei den Vollprogrammen. 9Live International produziert als 100-prozentige Tochter seit Sommer 2007 Call-TV-Fenster für das Ausland. Darunter Abnehmerländer wie Dänemark, Schweden, Mexiko und Belgien sowie ein europaweites, türkischsprachiges Call-TV-Fenster.

Doch wo viel Licht ist, ist auch Schatten: Immer mehr Kritiker sehen in dem Geschäftsmodell Betrug an den Zuschauern. So beschäftigten sich immer häufiger die Bayerische Landesmedienanstalt und die Justiz mit dem polarisierenden Sender. 2005 fällt das Landgericht Freiburg das erste rechtskräftige Urteil zu TV-Gewinnspielen: Es handele sich nicht um unerlaubtes Glückspiel. Die CSU-Politikerin Gabriele Goderbauer-Marchner droht dem Mitmach-Sender später sogar mit Sendelizenz-Entzug.9Live kippt bei der sogenannten „Lauenstein-Affäre“ selbst Öl ins Feuer und liefert Kritikern neuen Zündstoff: Im Mai 2007 geht während einer Live-Sendung die Regieanweisung on-air, man solle „bei solchen Peaks“ später zuschlagen. Anders als von vielen Zuschauern gedacht, werde der „Hot Button“ also nicht vom Zufall ausgelöst, wie die Mitmachregeln später verdeutlichen. Der Vorfall blieb vorerst ohne Folgen. Kurios: 2010 ließ die Bayerische Landesmedienanstalt bei bereits verhängten Bußgeldverfahren gegen 9Live sowie Mitbewerber Sport 1 wegen Verstößen gegen die Gewinnspielsatzung in mehreren Fällen die Fristen versäumen. Somit kamen die Sender ohne Bußgeld davon. Da die Staatsanwaltschaft zwei Tage zu spät eingeschaltet wurde, blieben 9Live fünf Verfahren und mindestens 115.000 Euro Bußgeld erspart. Es sei ein „bedauerliches Büroversehen“ während der Ferienzeit – so die spätere Begründung der Verantwortlichen.

Im Frühjahr 2009 führen die Landesmedienanstalten erstmals verbindliche Call-In-Spielregeln ein, sodass bei Verstößen Bußgelder drohen. Durch die Auflagen brechen 9Live Umsätze weg, sodass man sich juristisch versucht zu wehren. Im Oktober 2009 versucht 9Live neue Wege mit mehr werbefinanzierten Programmen einzuschlagen: Bei einer gesponserten Casino-Sendung wird über eine kostenlose 0800-Nummer gespielt. Dazu 9Live-Geschäftsführer Ralf Bartoleit: "Mit den neuartigen Gewinnspielsendungen, dem veränderten Astro-Angebot, weiteren Flächen für Homeshopping, einer vertieften Wertschöpfung Richtung Internet sowie klassischem Call-In-TV eröffnet 9Live Transaktionsfernsehen in Deutschland neue Zukunftsperspektiven.“

Bei der jährlichen Programmvorschau für Werbekunden äußert sich ProSiebenSat.1-Chef Thomas Ebeling 2010 zweifelnd über den Tochtersender: Die Anzahl der Anrufe sei stark zurückgegangen, klassisches Call-TV im Sinne der typischen Gewinnspiel-Sendungen sei nicht mehr so attraktiv, so Ebeling. Schuld seien auch die "juristischen Begrenzungen". Anfang 2011 beendet 9Live die Ausstrahlung via Astra analog, sodass die Reichweite und damit auch die Anruferzahlen rückläufig sind. Einige Wochen später wird es offiziell: Die Call-In-Ära von 9Live endet in der Nacht zum 1. Juni 2011 nach knapp zehn Jahren. Beim neuen fiktionalen 9Live-Programm greift man auf Kooperationen mit Astro TV sowie das Serienarchiv von ProSiebenSat.1 zu. Die letzte Live-Show wird unter anderem von 9Live-Urgestein Thomas Schürmann am Dienstagabend ab 22.15 Uhr moderiert. Um Mitternacht endet dann ein Stück TV-Geschichte des polarisierenden Call-In-TVs in Deutschland. Soweit die Bayerische Landesmedienanstalt zustimmt, könnte der ProSiebenSat.1-Frauensender sixx zum ersten Sendergeburtstag die reichweitenstärkere 9Live-Frequnz übernehmen. Damit wäre 9Live Fernsehgeschichte.
31.05.2011 19:30 Uhr Kurz-URL: qmde.de/49953
Benjamin Horbelt

Artikel teilen


Tags

9Live

◄   zurück zur Startseite   ◄

Qtalk-Forum » zur Desktop-Version

Impressum  |  Datenschutz und Nutzungshinweis  |  Cookie-Einstellungen  |  Newsletter