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Die Kritiker: «Tatort: Der letzte Patient»

Story


In einem Vorort von Hannover wird Dr. Silke Tannenberg tot in ihrer ausgebrannten Praxis gefunden. Es war kein Unfall, wie sich schnell herausstellt. Charlotte Lindholms Vorgesetzter, Kriminaldirektor Bitomsky, besteht darauf, dass sie höchstpersönlich diesen Fall übernimmt. Er kannte die Ärztin flüchtig, wie er behauptet. Vor Ort trifft Charlotte auf Oberkommissarin Anja Dambeck, Musterexemplar einer berufstätigen Mutter, die Beruf und Familie perfekt organisiert. Für Charlotte Lindholm ein rotes Tuch, weil bei ihr privat derzeit Chaos herrscht. Denn ihr guter Freund Martin ist grußlos verschwunden, meldet sich auch nicht am Handy bei ihr. Zunächst versucht Lindholm mit Job und Kind klarzukommen – mit mangelndem Erfolg. So muss ihre Mutter als Aufpasserin für Lindholms den Nachwuchs herhalten. Lindholm konzentriert sich wieder ganz auf ihren Fall: Das Motiv für den Mord an der alleinstehenden Ärztin ist völlig unklar. Bei den Ermittlungen kreuzt immer wieder der verwahrlost wirkende Jugendliche Tim Charlottes Weg. Zudem stößt Charlotte auf ein Videotagebuch, das Frau Dr. Tannenberg über ihre Männerbekanntschaften geführt hat, ehe ihre Ermittlungen ihr ganz andere Geschichten offenbaren.

Darsteller


Maria Furtwängler («Tatort», «Die Flucht») ist Charlotte Lindholm
Joel Basman («Sennentuntschi») ist Tim König
Christina Große («Weissensee», «Westflug») ist Anja Dambeck
Jan Messutat («Rot Gold Schwarz») ist Jörg Sallwitz
Cristin König («Mein Leben – Marcel Reich-Ranicki») ist Dr. Silke Tannenberg
Torsten Michaelis («Tatort», «Wilsberg») ist Kriminaldirektor Stefan Bitomsky
Pit Bukowski («Jessi») ist Fabian Grimm

Kritik


Es ist der erste NDR-«Tatort», der ohne ein eingespieltes Team auskommen muss. Dass Ingo Naujoks als Lindholms guter Freund Martin bei der Krimi-Reihe ausgestiegen ist, fand auch im Drehbuch von Astrid Paprotta seine passende Erwähnung. Der Hannoveraner «Tatort» beschreibt also, dass Martin die Wohngemeinschaft mit LKA-Beamtin Lindholm plötzlich verlassen hat und als Ziehvater für ihren eigenen Sohn ausscheidet. Lindholm ist deswegen wütend. Soweit das Drehbuch und die Umsetzung im Film, die eine nette Nebengeschichte darstellt. Vor allem da Ermittlerin Lindholm später auch dem perfekten Vorbild einer alleinerziehenden Mutter begegnet, was weiteren Zündstoff auch direkt den Fall betreffend mit sich bringt. In Wirklichkeit ist Mitbewohner Martin aber nicht mehr da, weil Schauspieler Ingo Naujoks für weitere «Tatort»-Filme nicht mehr zur Verfügung stehen möchte – er sah für seine Figur keine Entwicklung mehr und warf im Frühjahr das Handtuch. Dabei entwickelt sich die Lebenssituation von Charlotte Lindholm gerade erst durch das Fehlen des Mitbewohners. Das private Chaos ist eine willkommene Nebenerscheinung für die Storyline.

Doch wie es sich gehört hat Regisseur Friedemann Fromm den Mordfall in den Vordergrund gestellt. Und der hat es wirklich in sich. Emotional und knifflig wird es für Ermittlerin Lindholm, die Maria Furtwängler ein weiteres Mal überzeugend spielt. Sie selbst wird als starke, aber einsame Frau auf der Karriereleiter verkörpert und bekommt im Rahmen ihrer Ermittlungen mit der ortsansässigen Kommissarin das komplette Gegenteil vorgesetzt - eine selbstbewusste Familien-Managerin im Berufsleben. Damit nicht genug, spiegelt sich diese Situation für Lindholm auch noch in dem Mordfall, den sie von ihrem Vorgesetzten aufgetragen bekommen hat. Das Opfer ist eine erfolgreiche Ärztin, die in ihrer Praxis getötet wurde. Wie sich später anhand ihres Videotagebuchs herausstellt, hat auch sie sich sehr allein gefühlt. Ein fast perfektes Spiegelbild zur Momentaufnahme der Lage von Charlotte. Zumindest die zahlreichen Affären hat die LKA-Beamtin ausgelassen, um ihr Glück zu finden. Doch abseits dieser Parallelen und dem nervigen Paradebeispiel in Form der Oberkommissarin Anja Dambeck, die Familien-Kurse besucht sowie Beruf und Erziehung offenbar in Einklang zu bringen vermag, blitzt die Professionalität bei Lindholms Ermittlungen immer wieder auf, so dass trotz vieler Nebeneffekte ein geradliniger, echter Krimi inszeniert wurde. Doch auf die eine oder andere unnötige Sequenz bei den Nebenhandlungen hätte man schon verzichten können, um den Fokus noch stärker auf der Haupthandlung zu lassen.

Denn bei den Ermittlungen in dem Mordfall stößt Charlotte Lindholm auf ungeahnte Abgründe, die sich dahinter verbergen und gar nicht direkt die Ermordete betreffen. Vielmehr kommt ein aktuell gegenwärtiges Thema zum Tragen. Im Mittelpunkt steht hier das lernbehinderte Pflegekind Tim. Der Teenager wird von Sozialarbeitern und Pflegefamilie gezwungen „Anweisungen“ zu erfüllen – sprich: Von den Pflegeeltern wissentlich an andere geschäftstüchtige Männer verkauft und muss mitmachen, was sie gerade von ihm wollen. Und weil Tim keinen Mut hat „Nein“ zu sagen, lässt er all dies über sich ergehen. Wobei man hier nicht plakativ reinen Sex mit Minderjährigen anspricht, sondern auch allein die Neigungen pädophiler Erwachsener betrachtet. Mit dem Behandeln dieser Thematik hat man einen aktuellen Hintergrund in der «Tatort»-Folge geschaffen, der im Zuge der Debatte rund um die RTL II-Sendung «Tatort Internet» auch eine ganz andere Herangehensweise an das schwierige Thema beschreibt. Denn so einfach hat man es sich offensichtlich nicht gemacht: Sex spielt hier eine Nebenrolle, während Nähe und Zuneigung im Vordergrund stehen. Regisseur Friedemann Fromm schafft es auch ohne erhobenen Zeigefinger die dünne Grenze zu Ausnutzung und Missbrauch zu markieren. Er zeigt, wie erwachsene Männer zwar Pädophilie weit von sich weisen, aber davon reden, den Jungen einfach nur berühren zu wollen. Besonders deutlich wird das in einer Verhörszene, in der Jan Messutat als Jörg Sallwitz sehr authentisch diese Kluft offenbart und in Tränen ausbricht. Eine respektabele Schauspielleistung und ein großer Pluspunkt für den «Tatort» aus Hannover, der an dieser Stelle sehr viele Emotionen hineinbringt.

Leider hat man durch die sich durch den Film wie ein roter Faden ziehende Nebengeschichte mit Lindholms Gegenpart Dambeck etwas zuviel gewollt beziehungsweise diese Story zulange genährt, so dass die durchaus interessanten und aufreibenden Konflikte zwischen den gegensätzlichen Ermittlern zwar das Fehlen von Ingo Naujoks wett machen, aber in Teilen den Haupthandlungsstrang vernachlässigt. Da der «Tatort: Der letzte Patient» aber überraschend mit einer sehr aktuellen Thematik aufwartet und an diese sehr gewissenhaft, aufklärend und vorbildlich herangeht, bleibt die Reihe eine Empfehlung wert. Ob Ermittlerin Lindholm im nächsten «Tatort» aus Hannover aber einen ebenso starken Gegenpart haben wird, ist noch nicht entschieden. In reduzierter Form wäre das gar nicht mal so falsch, würde dies zur langfristigen Lösung für einen Naujoks-Ersatz beim NDR-«Tatort».

Das Erste zeigt den «Tatort: Der letzte Patient» am Sonntag, 31. Oktober 2010 um 20.15 Uhr.
30.10.2010 08:15 Uhr Kurz-URL: qmde.de/45515
Jürgen Kirsch

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Die Kritiker Tatort

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