Trotz miserabler Qualität brechen die Scripted Realitys derzeit alle Rekorde. Worin liegt der Reiz an den Nachmittagssendungen? Am Voyeurismus oder an der mangelnden Bildung der Zuschauer? Sehen wirklich nur Arbeitslose zu? Quotenmeter.de versucht dem Phänomen auf den Grund zu gehen.
Die Scripted-Reality-Formate sind ein seltsames Phänomen. Die Laiendarsteller sind ohne Ausnahme hoffnungslos überfordert, die Drehbücher klischeeüberfrachtet und maßlos überzogen und die Inszenierung der erfundenen Handlungen könnte kaum hölzerner und plumper sein. Doch trotz dieser minderen Qualität, die hauptsächlich dem geringen Budget und der viel zu kurzen Produktionszeiten geschuldet sind, erfreuen sich die Sendungen einer wachsenden Beliebtheit. In den vergangenen Wochen stellten sowohl die RTL-Formate «Familien im Brennpunkt» und «Verdachtsfälle» als auch die noch junge RTL II-Reihe «X-Diaries» (Foto) neue Bestwerte in der jungen Zielgruppe auf. Die Sat.1-Sendung «Schicksale – Und plötzlich ist alles anders» weist einen eindeutigen Trend nach oben auf und Shows wie «Mitten im Leben» oder «Schwiegertochter gesucht», die sich immer mehr den geschriebenen Sendungen annähern, schwimmen ebenfalls auf der Erfolgswelle mit. Sogar die ARD liebäugelt inzwischen mit dem Gedanken ähnliche Formate, wenn auch in einer anderen Ausgestaltung, umzusetzen. Irgendetwas scheinen diese Programme an sich zu haben, das die Menschen fasziniert und dessen Anziehungskraft so groß sein muss, dass selbst die schlechte Umsetzung nicht abschreckt. Worin liegt also der Erfolg der erfundenen Geschichten?
Verantwortlich für die derzeit erfolgreichsten Vertreter «Verdachtsfälle» und «Familien im Brennpunkt» ist die Firma filmpool. Branchenexperten sehen die Stärke dieser Produktionen in der moralischen Einordnung, die am Ende jeder Ausgabe steht. Der Zuschauer würde demnach mit den Geschehnissen nicht allein zurückgelassen werden. Dies wäre ein Aspekt, der beispielsweise bei Daily Soaps oft fehlen würde. Ob diese Begründung jedoch ausreichend ist, bleibt zu bezweifeln, denn auch Formate wie «Zwei bei Kallwass», «Richterin Barbara Salesch» oder «Die Supernanny» liefern eindeutige moralische Wertungen und trotzdem sinken deren Zuschauerzahlen seit Einführung der geschriebenen Dokus stetig.
Kenner glauben zudem, die filmpool-Formate würden den Zuschauern eine realere Welt als bei täglichen Serien liefern. Dort seien die Verhältnisse eher frustrierend, weil hauptsächlich Models engagiert würden. Die Nachmittagsformate von RTL zeigen hingegen Menschen, mit denen sich der normale Zuschauer identifizieren könne. Doch auch dieses Argument kann den enormen Siegeszug nicht vollständig erklären. Schließlich präsentieren die Sendungen extreme Situationen und archetypische Charaktere, die meist derart übersteigert sind, dass sich nur ein Bruchteil der Zuseher in ihnen vollständig wiedererkennen kann.
Liegt die Dominanz letztendlich in der Unwissenheit der Zuschauer, dass die gezeigten Ereignisse frei erfunden und durchweg inszeniert sind? Schließlich wird lediglich im Abspann mit einer kurzen Bemerkung auf diesen Umstand hingewiesen. Dies bemängelte zuletzt auch der Dokumentarfilmer Andres Veiel gegenüber der Berliner Zeitung: „Der [Hinweis] wird aber so schnell eingeblendet, dass der Zuschauer das gar nicht realisiert. Es müsste noch klarer gemacht werden, dass es sich um Schauspieler handelt. Stattdessen wird ihm vorgegaukelt, die Sendungen bildeten die Realität ab.“
Wenn tatsächlich das mangelnde Verständnis für die gestellten Situationen der Grund für deren Erfolg ist, kann dieser wohl durch einen ausgeprägten Voyeurismus erklärt werden. Gleichzeitig könnte dies bei einigen Zuschauern ebenso das gute Gefühl hinterlassen, dass egal wie schlimm die eigene Situation sein mag, es Menschen gibt, denen es noch viel schlechter geht. Das scheinbar echte Elend wäre dann eine Bestätigung der eigenen (Miss-)Verhältnisse.
Doch wie wahrscheinlich ist es, nicht zu merken, dass die Aktionen nicht real sind? Wird dies tatsächlich flächendeckend nicht erkannt? Entlarvt man das Schmierentheater nur deswegen, weil man es ohnehin schon wusste. Hier fällt es einem als langjähriger Medienbeobachter und –kritiker schwer die dafür nötige Distanz zu wahren. Es könnte aber ein erster Ansatz sein.
Vielleicht liegt der Reiz aber auch gerade in der Übertreibung, in der Übersteigerung der Personen und Emotionen? Andres Veiel brachte diesen Aspekt treffend auf den Punkt: „Was auffällt, ist das Bestreben der Regie, dem Zuschauer in jeder Szene einen emotionalen Kick zu verschaffen. Es wird gepöbelt, geweint, geschrien und gehauen. Darsteller funktionieren wie Durchlauferhitzer. [...] Jede Szene steuert auf einen Ausbruch hin. Es gibt keinen Platz für Zwischentöne. Dieses Format bedeutet die Hinrichtung der Grauzone.“
Stellen die Formate in ihrer Eindeutigkeit eine wohltuende Konstante im alltäglichen Chaos dar? Im realen Leben gibt es oft uneindeutige Situationen oder inkonsequente Charaktere, die einen differenzierten und damit mühsamen Umgang bedürfen. Ist die Schaffung eines derart vereinfachten Abbildes in Wahrheit die Flucht aus einer zu komplexen Welt? Dann ginge es nur zweitrangig um die Inhalte, sondern vielmehr um deren Eindeutigkeit. Dazu würde dann in der Tat auch die moralische Wertung passen. Dem Zuseher würde auf diese Weise auch noch das Urteil über das Gesehene abgenommen. Es wäre ein Armutszeugnis für jeden Zuschauer, wenn sich diese Theorie bewahrheitete.
Bei der Betrachtung der Einschaltquoten für «Verdachtsfälle» und «Familien im Brennpunkt» fällt auf, dass die Programme hauptsächlich von weiblichen Zuschauern gesehen werden. Rund zwei Drittel des Publikums besteht aus Frauen über 14 Jahren. Sicher kann dies teilweise an der geringeren Beschäftigungsquote der Frauen liegen, wodurch diese nachmittags grundsätzlich mehr fernsehen. Der Unterschied zwischen den männlichen und weiblichen Beschäftigungsanteilen ist mit 46 zu 54 Prozent jedoch nicht so groß, als dass er den Erfolg der Sendungen bei Frauen ausschließlich erklären kann. Offenbar sind die Sendungen tatsächlich frauenaffiner.
Zuweilen werden die Formate von ihren Gegnern als „Hartz IV-TV“ oder „Unterschichtenfernsehen“ bezeichnet. Die Zuschauerschaft würde also hauptsächlich aus ungebildeten und erwerbslosen Sozialfällen bestehen, die – überspitzt formuliert – nichts besseres zu tun hätten.
Es ist aufgrund der nachmittäglichen Sendezeit nicht verwunderlich, dass die Sendungen hauptsächlich von Menschen ohne derzeitige Beschäftigung gesehen werden. Doch mit einem Anteil von etwa 42 Prozent sind fast gleich viele erwerbstätige Zuschauer darunter. Es stimmt daher nicht, zu behaupten, sie würden nur von Arbeitslosen gesehen werden. Dies spiegelt auch das Haushaltseinkommen der Zuschauer wieder. Über 40 Prozent und damit der größte Teil verfügt über ein Netto-Einkommen von über 1.750 Euro, hingegen nur 20 Prozent unter 1.000 Euro zur Verfügung haben.
Am Montag, den 25. Oktober 2010, sahen «Familien im Brennpunkt» insgesamt 2,12 Millionen Menschen. Unter ihnen hatten 61 Prozent der Zuschauer einen Volks- bzw. Hauptschulabschluss, während 28 Prozent eine weiterführende Schule besucht haben. Lediglich drei Prozent der Zuseher haben das Abitur und sogar nur 1,4 Prozent ein Studium absolviert. Zunächst sprechen die Zahlen tatsächlich dafür, dass das Bildungsniveau der Zuschauer gering ist. Man muss dabei jedoch das unterschiedliche Fernsehverhalten der Gruppen berücksichtigen, denn die Fernsehnutzung der Menschen mit niedrigeren Abschlüssen ist statistisch insgesamt deutlich höher. Auch «Richterin Barbara Salesch» wurde an diesem Tag zu rund 60 Prozent von Menschen mit einem Hauptschulabschluss gesehen. Bei der jüngste Ausgabe von «Bauer sucht Frau» am selben Abend, gehörten rund 56 Prozent der Zuschauer der niedrigsten, erfassten Bildungsstufe an und selbst bei der recht bildungsstarken Serie «Fringe» auf ProSieben lag der Wert bei knapp 48 Prozent. Der Anteil der Abiturienten und Studierten liegt bei allen vier Formaten deutlich im einstelligen Bereich.
Dennoch fällt auf, dass nur rund vier Prozent aller zu dieser Zeit fernsehenden Studierten die Fake-Doku «Verdachtsfälle» einschalteten. Dafür lag dieser Wert bei der parallel ausgestrahlten Richtershow von Barbara Salesch, die ebenfalls erfunden und mit Laiendarstellerin besetzt ist, bei über 30 Prozent. Einen wirklichen Aufschluss wollen die Einschaltquoten über den Erfolg der Formate daher nicht geben.
Vor allem ist es nicht zu erklären, wieso die Sendungen von RTL derart erfolgreich sind, aber die Versuche von ProSieben zur selben Sendezeit mit «Entscheidungen am Nachmittag», «The Secret» (Foto) und «Love Diary» ähnliche Konzepte zu etablieren, grandios scheiterten. Sofort auffallend - auch am Pressefoto: Die Produktion «The Secret» setzte auf recht gutaussehende und gut situierte Menschen. Aber ist das Format allein deshalb gescheitert?
Einen hervorstechenden Grund für den Erfolg der Scripted Realities scheint es demnach nicht zu geben. Vielleicht liegt die Lösung eher in einer Mischung aus allen Faktoren. Vielleicht aber auch in der allgemeinen Penetranz, mit denen diese verbreitet werden und die dem Zuschauer kaum eine Möglichkeit lässt, sich zu entziehen. Worin auch immer der Erfolg dieser Formate liegen mag, er lässt sich derzeit nicht wegdiskutieren und wird sicher zu einer weiteren Erstarkung des Genres führen. Als Fernsehliebhaber bleibt einem angesichts dieser ernüchternden Ergebnisse nur die Hoffnung auf bessere Zeiten, bei denen wieder Professionalität, Qualität und Liebe zum Medium maßgeblich sind.