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«1 Stunde Wahnsinn»: Wiederholungstäter

Quotenmeter.de-Redakteur Jakob Bokelmann schaute von 5 bis 6 Uhr morgens fern. Alle Eindrücke einer frühmorgendlichen Odyssee durch das deutsche Fernsehen in einer neuen Ausgabe von «1 Stunde Wahnsinn».

Donnerstag, 04:56 Uhr, knackig kühle 3 Grad Celsius, irgendwo in Süddeutschland: Kaltes Neonlicht der Straßenbeleuchtung dringt durch den gerafften Stoff des Rollos ins Fenster und wirft ungleichmäßige Muster an die Wand, während der orangefarbene Schein der energieeffizienten Natriumdampflampe neben dem Fußgängerüberweg sanft den Schreibtisch erleuchtet. Ergebend blubbernd erbarmt sich die Heizung, aus dem nächtlichen Sparmodus zu erwachen und den Raum schwerfällig mit trockener Wärme zu füllen. Vor dem Fenster schleicht eine schwarze Katze mit glühenden Augen vorbei, die mich eine kurze Schrecksekunde lang erschaudern lässt. Mein Blick schweift durch den Raum und der Katzenschreck weicht einem viel größeren, denn ein grässlich gekleidetes Monster offenbart mir: «Du hast Angst zu sterben!». Erst als das Unwesen mit blechener Stimme noch ein verbindliches «Du entgehst deinem Schicksal nicht!» in den Raum stellt, realisiere ich, dass der Fernseher läuft - und ich mitten in einer Stunde Fernsehwahnsinn von fünf bis sechs Uhr morgens bin, die mit «Stargate» und wirren Träumen des Außerirdischen Teal‘C begonnen hat. Wenigstens bin ich nach dem Schreck hellwach.

Ich entscheide mich, dem Science-Fiction-Spektakel vorerst zu entsagen und schalte zu BW Family.tv, einem dieser Sender, deren oktroyiertes Selbstverständnis durch die hässliche Fratze des Euphemismus scheinheilig vorgibt, service- und werteorientiertes Regionalfernsehen zu produzieren. Im Detail heißt das speziell für das baden-württembergische Familienprogramm, dass von spätabends bis frühmorgens unzählige Folgen der hauseigenen Sendung «AppsNight» programmiert werden. Die «AppsNight» ist das Sammelbecken für ehemalige GIGA-Moderatoren, bei denen es nach Einstellung des Sendebetriebs nicht für eine Karriere bei MTVs «Game One» oder eine selbsternannte Tätigkeit als C-Prominenz nebst eigener ProSieben-Show gereicht hat - also für Marko Bagic und Emily Whigham. Die beiden Moderatoren öden sich und die Zuschauer in beachtenswerter Monotonie durch die Nacht und stellen unter inflationärem Gebrauch süffisanter Kommentare iPhone-Applikationen vor. Nach kurzer Zeit habe ich nicht nur dutzende Löcher in die Luft gestarrt und den Schreibtisch aufgeräumt, sondern auch die Nase gestrichen voll.

Kurz vor meinem angestrebtem Wechsel zu RTL ereilt mich eine ungute Vorahnung, die leider allzu schnell bestätigt wird: Der Kölner Sender recycelt des Nachts das, was am Nachmittag des Vortages regelmäßig für sensationelle Einschaltquoten sorgt und in besser informierten Kreisen in ängstlicher Ehrfurcht als Scripted Reality umrissen wird. Ja, ich stecke fest in einem Sumpf aus Ablenkung und Aufregung, den RTL «Verdachtsfälle» nennt. Fantasie eines gelangweilten Drehbuchschreibers in dieser Folge: Brigitte Müller, eine korpulente Frau in ihren besten Jahren und hauptberuflich JVA-Beamtin im offenen Vollzug, bemerkt, dass ihr Sohn Peter eine Gefangene besucht. In bester «Lenßen & Partner»-Manier legt sich Brigitte auf die Lauer, um herauszufinden, ob die Kriminelle ihren Sohn kontaktiert. Geschickt geplant und gewieft ausgeführt ist ihr Ablenkungsmanöver, mit dem sie nach Dienstschluss alle Kollegen und die Verdächtige täuscht: Brigitte wäscht ihr Auto und folgt der Gefangenen dann in den Park. Unter Schimpfkanonaden der Mutter aus dem Off trifft sich Peter tatsächlich mit der verurteilten Frau und wird von Brigitte barsch aufgeklärt: «Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen!». Mit einem kleinlauten «Aber Mama!» entzieht sich Peter geschickt der Verantwortung seiner moralisch verwerflichen Tat, während ich es vorziehe, meine Rundfunkgebühren in Aktion zu erleben.

Im Ersten wird das Abendprogramm wiederholt: Das Thema «Kann Guttenberg die Politik adeln?» bei «hart aber fair» ist nicht nur aufbereitet wie der ähnliche Spiegel-Titel der Vorwoche und generell sämtliche anderen Guttenberg-Diskussionen in den letzten Wochen auch, sondern birgt auch keinerlei neuen Erkenntnisse. Als Frank Plasberg in einem Einspieler inklusive obligatorischem Adelsexperten über die korrekte Anrede eines Grafen aufklärt, bin ich schon fast beim NDR. Auch hier bekomme ich nur die Reste des Vorabends serviert, dieses Mal in Form von «DAS!» mit Sybil Gräfin Schönfeldt. Stolz lobe ich mein ungezieltes, aber sinnvolles Umgeschalte, denn Umgang mit Adeligen ist dank «hart aber fair» nun kein Problem mehr für mich. Moderatorin Inka Schneider scheint sich des Reichsgrafenstatus‘ ihres Gastes hingegen entweder nicht bewusst zu sein oder es ist ihr einfach egal, denn reichlich unbeeindruckt, aber immerhin freundlich lächelnd nickt sie einen Redestrom über die moralische Verwerflichkeit von Wirtschaftsbonzen ab, bevor sie den nächsten Magazinbeitrag im Rahmen der ARD-Themenwoche «Essen ist Leben» ankündigt: «Macht Essen nicht nur dick, sondern auch dumm?». Mit reichlich schlechtem Gewissen blicke ich auf meinen zweiten Kaffee und die leere Kippenschachtel und wechsle schnell den Sender.

Auf dem Weg in die Küche (dritter Kaffee, dickes Erdnussbuttersandwich) schalte ich in Erwartung irrwitziger Auktionsangebote zu 1-2-3.tv, vernehme aber nur ein eindeutiges Stöhnen. Da ich trotz des rhetorisch einwandfreien Slogans «Ich bin so jung und doch so geil» nicht gewillt bin, englische Komparative temperaturanzeigender Adjektive nebst einer Fantasiezahl à la «Hotter79» an eine überteuerte, dafür aber äußerst einprägsame Telefonnummer zu senden, schalte ich zu 9live. Hier muss ich selbiges Trauerspiel über mich ergehen lassen, denn um halb sechs scheinen selbst die hyperventilierenden Quizshowmoderatoren bereits im Bett zu liegen. Eine Janine-Kunze-Doppelgängerin, die man landläufig als landläufig bezeichnen würde, bewegt sich vor schmierigen Samtvorhängen wenig rhythmisch zu mediterraner Musik und fordert mich ebenfalls auf, doch mal kurz durchzuklingeln. Kurz überlege ich, auf härtere Getränke umzusteigen, denn wenn man es großzügig ausgelegt, ist es immerhin noch Nacht. Nach einem kurzen Blick auf meinen bevorstehenden Tagesplan verabschiede ich mich allerdings von diesem Gedanken und ziehe statt Alkohol lieber die Fernbedienung zu Rate.

Auf n-tv erwarte ich endlich anspruchsvolle Unterhaltung, spannende Nachrichten oder zumindest eine dieser unglaublich faszinierenden Riesenbaggerreportagen. Alles was ich bekomme, ist der geschäftsführende Schirmhersteller Hermann Würflingsdobler, der in seiner Lethargie sogar noch Marko Bagic schlägt, als er erklärt, dass «ein Regenschirm auch heute noch ein modisches Accessoire» sei - ob Christina Ringer vom Lifestylemagazin «5th Avenue» das wohl ohne Weiteres verifizieren würde? Apropos Lifestylemagazin: Auf ProSieben platze ich mitten in eine Wiederholung von «taff», diesem seelen- wie inhaltslosen Boulevardformat. Ein grinsender Muskelberg mit Kopf - das wird wohl Daniel Aminati sein - erklärt gerade das Gewinnspiel, bei dem es gilt, einen unkenntlich gemachten Prominenten zu erkennen. Abgesehen von dem Fakt, dass ich Detlef «Das-D-mit-Ausrufezeichen-macht-mich-noch-jungdynamischer!» Soost für keinen Prominenten halte, weist ein «Bitte nicht mehr anrufen»-Banner auf meine trostlose Nachtaktivität hin und verwehrt mir jede Chance, das neue Album irgendeines Chartmusikers zu gewinnen. Doch dafür wird im Anschluss große Unterhaltung geboten: Der «taff treuetest reloaded» (Lifestyle heißt auch, Slogans in Kleinbuchstaben über den Äther zu rotzen) bezieht sich auf einen früheren «taff treuetest», in dem Joana ihren Freund einem Treuetest unterzog. Der dreht den Spieß jetzt um, denn: «Jetzt ist sie auch mal dran, jetzt wird sie auch mal getestet!». Um 05:45 Uhr schaue ich zu, wie das ProSieben-Team den Yachthafen mit Kameras präpariert, um wenig später zu erfahren, dass Joana treu ist, den «taff treuetest reloaded» aber gar nicht witzig fand. Ich finde das Spektakel auch alles andere als zum Lachen und wende mich Schwesternsender Sat.1 zu.

Im «Sat.1 Frühstücksfernsehen» werden in einem Beitrag gerade Matratzen getestet - kurz schaue ich zum Bett herüber, das mir stillen Tribut zollt, um diese Uhrzeit weiterhin tapfer vor dem Fernseher zu verweilen. Schnell geht es nochmals zu RTL, wo Brigitte das Familienproblem offenbar gelöst hat und «extra» die Gretchenfrage stellt: «Könnte das eine etwas mit dem anderen zu tun haben?». Für derlei komplexe Ergüsse, in RTL-Manier abstrahiert, fehlt mir die Geduld und ich schaue bei VOX vorbei, wo mit «mieten, kaufen, wohnen» abermals eine Wiederholung des Vorabends läuft. Wenn die Sendung nicht gerade vorgibt, dass Castingshowteilnehmer, die nicht einmal mehr für die RTL-Magazine interessant sind, in bester Berliner Lage eine Wohnung kaufen wollen, werden zahlreiche Kauf- und Mietwillige durch die Immobilienszene gehetzt - in letzter Zeit gerne getarnt als Daily Soap mit Techtelmechteln zwischen Makler und Interessent oder bösen Streitereien. Gerade erklärt Thorsten Schlösser, der sportlich-dynamische Makler aus dem Ruhrpott, einem gefärbten Schönling zu mitreißender Black Eyed Peas-Musik, dass die besichtigte Wohnung zwei Küchen habe. Begeistert klatsche ich mit - nein, ich schalte doch lieber um.

Eine der letzten Stationen ist VIVA, dieser rundgelutschte Fernsehsender, der vorgibt, Musikfernsehen zu sein, während er uns mit «Virgin Diary», «America‘s Next Top Model» und Collien Fernandes zumüllt. Im «Nachtexpress» kommt dann um kurz vor sechs Uhr morgens allerdings tatsächlich so etwas Ähnliches wie Musik - Ronan Keatings «When You Say Nothing At All» brilliert mit einer atemberaubenden Choreografie und intelligentem Wortwitz. Spannender ist da nur die «Space-Night» im Bayrischen Rundfunk, die auf ihrer Website mit einem alles erklärenden Zitat aus der Süddeutschen Zeitung aufwarten kann: «Gesättigt von den wunderschönen Bildern fallen die Augen irgendwann ganz von alleine zu. Sie schweben zurück ins Bett und träumen von einem Planeten, den Sie am liebsten erobern würden. Gleich morgen!» Gut, dass ich nicht schon am Anfang meiner Odyssee durch das frühmorgendliche Fernsehprogramm hier gelandet bin, denn dann wäre mir folgende Erkenntnis verwehrt geblieben: Es lohnt sich partout nicht, frühmorgens den Fernseher anzustellen, denn die Bürde des armen Zuschauers sind entweder einfallslose Wiederholungen oder noch einfallslosere Wiederholungen des Vortages - wobei ich das auch vorher schon geahnt hatte. Und wer ist schon so blöd, sich zur Hauptschlafenszeit vor die Glotze zu setzen?
28.10.2010 10:15 Uhr Kurz-URL: qmde.de/45478
Jakob Bokelmann

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