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Das Begräbnis des Musikfernsehens

Tot sind MTV und Viva allerdings schon lange, meint unser Kolumnist.

Wer in den 90er Jahren seine Kindheit und Jugend verbrachte, kam an einigen Trends schlichtweg nicht vorbei. Tamagotchis, Boygroups, Dr. Sommer und Super Mario World gehörten ebenso zur Jugendkultur wie das aufkeimende Musikfernsehen. Viva startete im Jahr 1993, der deutsche MTV-Ableger folgte 1997. Junge Moderationstalente konnten dort als VJ ihre ersten Gehversuche im Fernsehen machen. Viele von ihnen legten anschließend eine respektable TV-Karriere hin, wie z.B. Oliver Pocher, Tobias Schlegl, Christian Ulmen, Markus Kavka, Sarah Kuttner und natürlich Stefan Raab. Das Musikfernsehen war DIE Ausbildungsstätte für hoffnungsvolle Nachwuchsmoderatoren. Es gab zahlreiche Chartshows, Clipstrecken, Live-Sendungen und Konzerte. Entscheidend war dabei: Man sprach darüber. Die neuesten Musikvideos wurden fortwährend auf dem Schulhof diskutiert. Ich verbrachte teilweise Stunden damit, mir Musikvideos reinzuziehen - den Finger stets am Aufnahmeknopf des VHS-Recorders, um meine Lieblingsvideoclips zu archivieren.

All das klingt wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten. Die Auflage der BRAVO wurde im Vergleich zu den 90er Jahren inzwischen drastisch reduziert. Sie hat ihre Relevanz bei den Jugendlichen mittlerweile ziemlich verloren. Nur noch die Wenigsten sammeln Starschnitte und vermutlich zeichnet heutzutage auch niemand mehr Musikvideos auf. In Zeiten von YouTube, in denen sich jeder sein individuelles Wunschprogramm am PC zusammenstellen kann, ist das zugegebenermaßen auch überflüssig geworden. Das Internet ist in puncto Musik zur Informations- und Bezugsquelle Nummer 1 geworden. Das haben auch die Musiksender feststellen müssen und mit der Zeit immer mehr die Musik aus dem Sendeschema verbannt. Würde man ein ansprechendes Alternativprogramm anbieten, wäre das sicherlich zu verkraften. Doch was einem seit den letzten fünf Jahren auf den sogenannten Musiksendern präsentiert wird, wirkt wie ein Trümmerhaufen, der jedes Kind der 90er in depressive Stimmung versetzt.

Das Programm besteht heutzutage weitgehend aus untertitelten oder schlecht synchronisierten US-Doku-Soaps. Titel wie «Virgin Diaries», «Disaster Date» oder «16 & Pregnant» lassen schon ausreichend auf den wenig geistreichen Inhalt schließen. Die übrigen Sendeplätze werden mit Cartoons und Teenserien von Nickelodeon gefüllt. Musikvideos gibt es von wenigen Ausnahmen abgesehen nur noch lediglich zu unprominenten Sendezeiten im Nacht- und Frühprogramm zu sehen. Schaut man sich die Liste der aktuellen VJs an, wird man ebenfalls erstaunt sein, wie wenig davon noch übrig sind. Jeweils fünf Moderatoren gibt es inzwischen nur noch bei MTV und Viva. Keine Frage, die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen, doch mit zusammen mit der Musik verschwand leider auch die Anarchie, die Inspiration und die Motivation aus dem Programm. Es gibt keine Nachfolger für «Unter Ulmen», «Vivasion», «Kamikaze», «MTV Wanted». Wer eine Stelle als Moderator sucht, wird bei MTV und Viva nicht mehr fündig. Traurig, wenn man bedenkt, dass somit jungen Talenten keine Möglichkeit mehr gegeben wird, sich auszuprobieren. Wer weiß, wie viele begabte Nachwuchsmoderatoren den Sendern schon durch die Lappen gegangen sind.

Diese Woche wurde bekannt, dass MTV ab 2011 zu einem Pay-TV-Kanal umgewandelt wird. Dies ist nur ein weiteres Indiz dafür, dass das Musikfernsehen zu einem absoluten Nischenprogramm geworden ist. Wer Musikvideos sehen will, gehört zu einer Special Interest-Minderheit und soll künftig dafür zahlen. Die Anzahl der Jugendlichen, die für MTV ein Pay-TV-Abo abschließen werden, dürfte allerdings im kaum messbaren Bereich liegen. MTV ist längst tot, nun wird es endlich begraben. Vielleicht ist es besser so.
10.10.2010 00:00 Uhr Kurz-URL: qmde.de/45079
Glenn Riedmeier

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