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Die Kino-Kritiker: «The Town»

Der Sommer geht von uns, und mit ihm die Saison der knalligen und lauten Blockbuster. Stattdessen umfängt uns nun der Herbst und mit ihm betreten leisere, zumeist gedankenvollere Kinofilme.
Die Rede ist zwar vom Kinojahr, dieses Bild beschreibt aber genauso treffend die Karriere Ben Afflecks. Der 1972 geborene Schauspieler war zwischenzeitlich an der Spitze Hollywoods, einer der ganz großen Stars. Affleck war einfach überall heimisch: In gigantischen, teuer produzierten Blockbustern wie «Armageddon», in der schmuddelig-herzlichen Welt des Kultfilmers Kevin Smith… und in den Klatschspalten. Seine Beziehungen zu Gwyneth Paltrow, Jennifer Lopez und Jennifer Garner waren das Gesprächsthema schlechthin in der Yellow Press. Und um es kurz zu machen: Der Boulevardjournalismus brach Afflecks Karriere als Glamour-Schauspieler das Genick. Und seine Rollenwahl im Spätsommer seines Lebens im Rampenlicht war auch nicht besonders förderlich.

Doch Totgesagte leben länger. Affleck ließ den Medienrummel um sein Privatleben hinter sich, sagte auffälligen Komödien und Popcorn-Filmen ade und konzentriert sich nunmehr ganz auf die Form der Kinokost, die ihn überhaupt erst nach Hollywood brachte. Für das Drehbuch von «Good Will Hunting» bekam Affleck Ende der 90er einen Oscar, 2007 erhielt er für sein spannendes und gedankenvolles Regiedebüt «Gone Baby Gone» mehrere Kritikerpreise. Seine zweite abendfüllende Regiearbeit «The Town» setzt stilistisch genau dort an und wächst mit Afflecks zunehmender Trittsicherheit als Regisseur.

Wie ein kurzer Einleitungstext erklärt, ist das Bostoner Viertel Charlestown die Welthochburg des Banküberfalls. Doch obwohl die Kriminalität den Alltag in Charlestown diktiert und viele Leben zerstörte, sind die Einwohner stolz auf ihr Viertel. Zu denen, deren Leben durch Charlestown vorbestimmt wurde, gehört auch Doug McRay (Ben Affleck), Bankräuber in zweiter Generation. Er ist das Gehirn in einer Bande Krimineller, die er zusammen mit seinem unbeherrschten Jugendfreund Jem (Jeremy Renner) um sich geschert hat. Doug organisiert die effektivsten Überfälle der Stadt: Keine Spuren, keine Verletzten, stattliche Ausbeute. Beim jüngsten Überfall verliert Doug jedoch die Kontrolle über seinen Hitzköpfigen Freund. Er schlägt einen Bankangestellten krankenhausreif und nimmt ohne Absprache mit Doug die Filialleiterin Claire (Rebecca Hall) als Geisel. Zwar lässt er sie kurze Zeit später wieder frei, aber ihn lässt das ungesunde Gefühl nicht los, sie könnte seine auffällige Nacken-Tätowierung gesehen haben. Jem stimmt für eine Zeugentilgung der endgültigen Art, doch Doug stemmt sich dagegen. Er möchte Claire beschatten und aushorchen, ob sie eine Bedrohung darstellt. Und während sich das FBI an die Fersen von Dougs Bande heftet, verguckt sich Doug in sein Observationsobjekt…

Die Figurenkonstellation in der Romanverfilmung «The Town» mag zwar nicht das Rad neu erfinden, doch es fällt schwer Affleck den Rückgriff auf zurecht bewährtes anzukreiden. Die Zusammensetzung der Figuren ist glaubwürdig und was Affleck aus seiner Grundkonstellation macht beeindruckend. Das Kriminaldrama mit Thrillereinschlag beginnt interessant, wenngleich zahnlos, zieht danach aber qualitativ kontinuierlich an, bis in der zweiten Hälfte zur durchdachten Dramatik schneidende Suspense und letztlich auch pulsierend inszenierte, realistische Action hinzukommen. Als Zuschauer weiß man deswegen gar nicht, was einen mehr erstaunen soll. Afflecks Talent für die Inszenierung grundehrlicher Dramatik und moralischer Ambiguität lernte man ja bereits in «Gone Baby Gone» kennen, dennoch überrascht es, dass er diese Qualität in seinem zweiten Boston-Krimi beibehalten kann, und zugleich dem Milieu trotzdem neue Seiten abgewinnt und die Ausmaße seines Krimidramas zielsicher ausweiten kann. Und die versierten Actionszenen hätte man Affleck bislang wirklich nicht zugetraut. Die Banküberfälle in «The Town» sind packend geschrieben und von Kameramann Robert Elswit («There Will Be Blood») fesselnd eingefangen, ohne dass sie zu einer bombastischen Materialschlacht wie bei Afflecks einstigem Arbeitgeber Michael Bay mutieren.

«The Town» besticht aber, wie schon «Gone Baby Gone», vor allem durch Afflecks Beobachtungen der Unterschicht Bostons, der Stadt, in der er groß wurde. Er skizziert ein realistisches und betrübliches Bild des Kriminellenmilieus und lässt die Atmosphäre Charlestowns zu einer eigenständigen Figur in «The Town» aufsteigen. Dazu tragen die eindrucksvollen Kameraaufnahmen ebenso bei, wie das durchweg gute Spiel der Darsteller. Doch das meiste Lob verdient an dieser Stelle das Drehbuch: Die Charakterzeichnung ist mehrdimensional und dadurch einvernehmend, Affleck und seine Koautoren Peter Craig und Aaron Stockard enthalten sich eines klaren Urteils, ergreifen für keine der Seiten Partei. Die Polizei ist schmierig und erbarmungslos, unter den Kriminellen finden sich zwar sympathische Menschen, die einfach nur einen Fuß im Leben fassen wollen, doch ihre Lebensentscheidungen lassen sich nie ohne weiteres befürworten. Es ist eine grau-graue Filmwelt, die den Teufelskreis der sozial Benachteiligten ergründet. In Charlestown wird man förmlich in das Bankraubgewerbe hineingeboren, und wer aus diesem Leben auszusteigen versucht, bekommt von Freunden und Familie Steine in den Weg gelegt, als wäre ein sozialer Aufstieg nicht schon beschwerlich genug.

In einem Milieu oder einer Lebenssituation gefangen zu sein, ist ein wiederkehrendes Motiv in Ben Afflecks besserem Schaffen. In «Chasing Amy» gab er einen Comicautoren und -zeichner, der mit infantilen Kiffer-Superhelden Erfolg feiert, aber viel lieber künstlerisch wertvolle Hefte veröffentlichen würde. Im modernen Film noir «Die Hollywood-Verschwörung» spielte er den frühen Superman-Darsteller George Reeves, den seine mehr und mehr ungeliebte Rolle überallhin verfolgte, und (vermeintliche) Ausweglosigkeit war auch eines der zentralen Themen des von ihm und Matt Damon verfassten Dramas «Good Will Hunting». Affleck hat also Erfahrung mit solchen Stoffen, und dies zeigt sich in der besonders starken, effektiv inszenierten zweiten Hälfte von «The Town», die aus dem sehr guten, anfangs konventionellen, Kriminaldrama etwas besonderes macht. Dass der Regisseur Affleck stärker als der Schauspieler Affleck ist (als Bankräuber Doug gibt er zwar eine gute Leistung ab, jedoch ist längst nicht seine bislang beste), kann man dank der straffen Regiearbeit problemlos verzeihen. Trotzdem ist die Chemie zwischen Affleck und Rebecca Haal zugleich das größte Plus, wie die größte Schwäche von «The Town». Ihr Miteinander auf der Leinwand ist bodenständig und somit glaubwürdig, allerdings geht ihm somit etwas cineastisches, einprägsames abhanden. Ein zusätzlicher, stark geschriebener Moment zwischen den beiden oder ein gewisses Etwas mehr von Affleck, das fehlt. Dennoch, als Seele des Films ist das Zusammen zwischen Affleck und Haal nicht zu unterschätzen und eine effektive Triebfeder sowohl für die Handlung, als auch für die emotionale Einbindung des Publikums.

Fazit: «The Town» wird von einigen Vertretern der US-Medien bereits als achtenswerter Kandidat für die kommende Oscar-Verleihung gehandelt. Wie die Chancen stehen, ist schwer abzuschätzen: «The Town» ist zwar in allen Belangen sehr gut, aber in keinem Einzelbereich herausragend genug für eine sichere Nominierung. Die neue Regelung, dass zehn Produktionen als bester Film nominiert werden, könnte «The Town» aber wenigstens eine Nennung in der Hauptkategorie einbringen. Und die hätte sich dieses spannende Kriminaldrama redlich verdient.
25.09.2010 08:00 Uhr Kurz-URL: qmde.de/44785
Sidney Schering

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Tags

Kino-Kritiker. Ben Affleck. The Town

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