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Glenns Gedanken: Klatschwütiges Herdenvieh

Ärgernis Studiopublikum: Unser Kolumnist nennt es auch "Applaus-Schimpansen".

Wir kennen das alle: Man schaltet nichts Böses ahnend den Fernseher ein, um eine beliebige Show im deutschen TV zu gucken. Es könnte alles so schön sein, wäre da nicht der Nervfaktor Nummer 1: Das Studiopublikum. Es applaudiert jedes Mal johlend, wenn Horst Lichter einen anzüglichen Altherrenwitz reißt; es klatscht anerkennend, wenn irgendein Wissenschaftler bei «Markus Lanz» eine ach so bahnbrechende Erkenntnis vom Stapel lässt wie "Wir müssen alle gegenseitig mehr Rücksicht aufeinander nehmen"; ganz zu schweigen vom scheinbar hypnotisierten Volksmusikpublikum, das es gar nicht abwarten kann, bis es beim nächsten Hit von Florian Silbereisen die Patschehändchen zusammenschlagen kann - natürlich stets typisch deutsch auf 1 und 3, während es die restliche Welt verstanden hat, dass man auf 2 und 4 klatscht.

Doch man muss die Zuschauer in Schutz nehmen, denn oftmals können sie gar nichts dafür. Das freiwillige Klatschen nach persönlichem Empfinden ist aus der Mode gekommen - zu riskant für so manchen Fernsehmacher. Sie trauen dem eigenen Format desöfteren nicht zu, dass es die Zuschauer von alleine begeistern und zum Klatschen anregen kann. Deshalb gibt es vor vielen Shows die wunderbaren Menschen, die sich Warm-Upper schimpfen. Ihre Aufgabe ist es, das Publikum in eine angemessene, lockere Stimmung zu versetzen. Sie reißen ein paar Sparwitze und instruieren die Zuschauer, wann und auf welche Weise sie gefälligst zu klatschen haben. Falls das auch noch nicht ausreicht, gibt es in einigen Shows die altbekannten "Applaus"-Schilder und Leuchtschriften, die dem unbedarften Zuschauer signalisieren sollen, wann er klatschen und gröhlen soll. Die Angst vor der ausbleibenden Publikumsreaktion ist also immens!

Das Applausdiktat kennt keine Grenzen. Gut zu erkennen ist auch oftmals der sogenannte Anklatscher. Wenn niemand anfängt zu klatschen, macht er den Anfang, selbst wenn es überhaupt keinen Anlass zum Applaudieren gibt. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn der Moderator einen Einspielfilm ankündigt. Ein normaler Mensch sieht keinen Grund für eine Reaktion, doch angeleitet durch den Anklatscher wird die MAZ schon vorher bejubelt. Wie so vieles im Fernsehen ist also auch das Klatschverhalten manipuliert und bewusst gesteuert. Dies führt allerdings dazu, dass das Studiopublikum oft den Eindruck einer Horde völlig einfältiger, gehirngewaschener Zombie-Marionetten macht. In Shows wie «Die ultimative Chart Show» oder «Die Hit-Giganten» lassen sich die Klatschprobanden, die vorher mit passenden Kostümen und lustigen Partyhütchen ausgestattet wurden, gar zu Standing Ovations für jeden noch so abgehalfterten Musikact der 60er und 70er Jahre anleiten.

Ein paar rühmliche Ausnahmen gibt es jedoch noch. Bei «TV total» verhält sich das Publikum beispielsweise relativ normal ohne übertriebene Reaktionen. Da versemmelt Stefan Raab auch gerne mal einen Gag und diverse halblustige Stand-Up-Comedians mussten schon feststellen, dass Humor vielleicht doch nicht ihr Metier ist. Das tut vielleicht ab und zu weh, ist aber vor allem ehrlich. Ein natürliches Publikum, das selbst entscheidet was es gut oder lustig findet, ist mir in jedem Fall lieber als dressierte Applaus-Schimpansen.
13.06.2010 00:00 Uhr Kurz-URL: qmde.de/42554
Glenn Riedmeier

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Glenns Gedanken

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