Bald startet RTL eine Doku-Soap über Süchtige, denen geholfen werden soll. Ekelhaft und geschmacklos oder interessant?
Lange Zeit galt das Genre der Doku-Soaps in der Primetime bei RTL als effizient wie kein anderes: Für wenig Geld wurden günstige Formate produziert, die dazu noch teils sensationelle Einschaltquoten einbrachten. Mittlerweile haben die Zuschauer offensichtlich genug vom Overkill in der Primetime; die guten Marktanteile sind mittlerweile eher am Nachmittag mit den sogenannten Fake-Dokus zu erzielen (
Quotenmeter.de berichtete). Dennoch versucht man sich weiterhin an neuen Shows am Abend. Wer aber soll noch gecoacht werden – nach existenzbedrohten Küchenchefs, verzweifelten Hotelbesitzern, erziehungsunfähigen Müttern, renitenten Teenagern oder planungsunfähigen Schuldnern?
Eigentlich dachten wir, dass RTL und Co. mittlerweile alle Randgruppen in Grund und Boden gecoacht haben, da kommt der Kölner Sender mit der Idee an, Süchtigen helfen zu wollen. Laut Pressemeldung sind Süchtige keine Randgruppe, sondern mit sieben Millionen Bürgern in der Bundesrepublik zahlreich vertreten. Höchst überfällig ist es also, diesen Menschen professionelle Hilfe anzubieten – in Form von Dr. Christoph Heck, einem Facharzt für Psycho- und Verhaltenstherapie. Formell hat man damit alles richtig gemacht, um einen Quotenerfolg für das neue Format zu gewährleisten, das ab Ende Mai in der Primetime zu sehen ist: Der Sucht-Coach hat einen begehrten Doktortitel und strahlt damit Professionalität sowie Seriosität aus, der Sendungsname ist mit «Süchtig» plakativ genug, dass auch der letzte Hinterwäldler versteht, was ihn beim Einschalten erwartet.
Eigentlich ist es doch völlig paradox, sich solche Coaching-Sendungen anzusehen, die arme Menschen in größten Not- und Problemsituationen zeigen, welche durch die Hölle gehen müssen und völlig verzweifelt sind, weil sie mit ihrem Leben nichts mehr anfangen können. So viel Pessimismus, so viel Negativität müsste uns eigentlich abschrecken. Doch Woche für Woche schauen Millionen Menschen im Fernsehen anderen Menschen an, die psychisch oder physisch im Dreck leben. In Sendungen wie «Rach der Restauranttester» werden diese Probleme vielleicht etwas subtiler dargestellt, aber das neue Format «Süchtig» wird die Grenzen ausloten, die der Zuschauer mit Coaching-Soaps ertragen kann. Insofern sind wir in diesem TV-Genre mittlerweile am Rande des guten Geschmacks angelangt. Und man kann nur hoffen, dass niemand sehen will, wie Alkoholabhängige die grausamen Wochen des Entzugs mitmachen, Drogensüchtige von der Spritze abgehalten werden oder Kettenraucher plötzlich Abstinenzler werden müssen.
Stefan Raab und andere haben vermutet, dass der Erfolg der Doku-Soaps im Coaching-Bereich daher rührt, dass die Zuschauer sehen wollen, wie es anderen Menschen schlechter geht als ihnen. Dies dürfte sicherlich einer der Gründe für den großen Erfolg einiger solcher Sendungen sprechen – denn es gibt nur wenig andere, die uns einschalten ließen. Coaching-Tipps für das eigene Leben können ausgeschlossen werden – schließlich gibt es nicht sechs Millionen Restaurantbesitzer in der Krise oder drei Millionen Mütter, die ihre Kinder nicht erziehen können. Im Gegenteil: Meist sind die Methoden, die von den Coaches angewandt werden, entweder völlig realitätsfern oder redundant. Insofern dürfte der Erfolg dieser Formate tatsächlich damit zusammenhängen, dass die Zuschauer den Bodensatz der Massengesellschaft leiden sehen will (wenn auch nur unterbewusst). Dies war beispielsweise schon in der Antike bei den Gladiatorenkämpfen im alten Rom so, dies war schon so, als Menschen Geld dafür bezahlt haben, Deformierte in Käfigen als Zirkusattraktion anzusehen. Und sind auch nicht viele andere Fernsehformate implizit darauf ausgerichtet, unseren im Fernsehprogramm subtil domestizierten Leidens-Voyeurismus zu befriedigen – beispielsweise das RTL-Dschungelcamp oder die Abspeck-Show «The Biggest Loser»? Möglich wäre es, es hat vielleicht aber auch ganz andere Gründe. Richtig verstehen wird man es nicht können, warum Coaching-Soaps so erfolgreich sind – weder die, die sie selbst gerne sehen, noch jene, die verächtlich mit dem Kopf schütteln, wenn Formate wie «Süchtig» angekündigt werden.
Jan Schlüters Branchenkommentar beleuchtet das TV-Business von einer etwas anderen Seite und gibt neue Denkanstöße, um die Fernsehwelt ein wenig klarer zu sehen. Eine neue Ausgabe gibt es jeden Donnerstag nur auf Quotenmeter.de.