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Eine Stunde Wahnsinn: Livesport rettet nicht

Diesmal haben wir an einem Werktag um 18 Uhr den Fernseher eingeschaltet und unsere Gedanken zum Programm aufgeschrieben.

Dienstag, 18.00 Uhr. In der nächsten Stunde steht die deutsche Fernsehlandschaft auf dem Prüfstand. Was ist interessant und ist überhaupt etwas sehenswert? Wo muss sofort weitergeschaltet werden? Im Ersten flimmert auf die Sekunde pünktlich der Vorspann zur Soap «Verbotene Liebe» über den Bildschirm. Ich war noch nie Soap-Fan und werde es wohl auch nie sein, aber ich gebe der Serie für ein paar Minuten eine Chance. In dieser Zeit stecken zwei junge Männer in einem „Deko-Dilemma“, weil sie nicht wissen, wie sie ihre Wohnung für die kommende Party einrichten sollen. Der Weltuntergang wird allerdings verhindert, weil sich noch eine Aushilfs-Expertin finden lässt. Ich schalte weiter. Im ZDF sehe ich Bruce Willis in einem Interview bei «Leute heute». „Wir alle versuchen doch, bessere Menschen zu werden“, ist ein Zitat, das ich aufgeschnappt habe. Nun, Willis hat dies mit Filmen wie «Stirb langsam» sicherlich geschafft…

RTL zeigt in «Guten Abend», dem Regionalmagazin, wieder einmal menschliche Einzelschicksale. Erst einen Jugendlichen mit zerschmetterter Nase, dann einen Türken, der wegen Mordes zu langer Haft verurteilt wurde. Die RTL-Kameras haben die besten Szenen vor Gericht eingefangen: Der Vater rastet angesichts des Urteils live aus und verteidigt seinen Sohn. In Sat.1 gibt es die nächste Soap: «Eine wie keine». Auffällig gegenüber der öffentlich-rechtlichen Version «Verbotene Liebe» ist die Untermalung mit dramatischer Musik, deutlich akzentuierterer Sprache und viel schnelleren Dialogen mit schnelleren Schnitten. Die vermeintliche Hauptdarstellerin, die dann im Bild auftaucht, sieht mit ihrer rothaarigen Aufsteckfrisur, einer knalltürkisen Jacke und weißem Deko-Schal wie eine Edel-Prostituierte aus Hamburg aus. Ob dieses Format jemals seine Zuschauer findet, ist angesichts dieser Bilder fraglich.

ProSieben hat gerade seine traditionelle Stunde mit den «Simpsons» begonnen. Homer versucht sich in dieser Folge selbst zu verletzen, um als Behinderter von zuhause aus arbeiten zu können. Den Weg dahin sieht er in der Fettleibigkeit – mehr als 150 Kilo müssen bald auf der Waage stehen. Die «Simpsons» funktionieren immer. Doch ich schalte weiter, um die Fernsehlandschaft komplett zu begutachten. Im «Promi-Trödeltrupp» bei RTL II droht eine Domina namens Molly dem Trödel-Verkäufer Schläge an, wenn er „meine Sachen nicht anständig verkauft“. Der Trash hat den Vorabend erreicht. Glücklicherweise geht´s nach einer Minute in die Werbung. Ich schalte weiter und lande bei kabel eins. In «Abenteuer Alltag» wird wahrscheinlich wieder ein alter «Galileo»-Beitrag versendet. Diesmal zeigt man, wie industriell Messer hergestellt werden. Mehr Langeweile kann nicht auf den Bildschirm gebracht werden. Ich klinke mich aus, als die „Montage des Griffs“ dargestellt wird.

Der Kultursender 3sat zeigt den dritten Teil einer Doku-Reihe namens «Australien». Darin bohrt gerade ein Mann namens Ken nach Edelsteinen in der Sandwüste. Er findet einen großen Opal. Nun wird die von Ken „selbst ausgeschachtete Höhlenwohnung“ gezeigt. Ich assoziiere die Bilder der Wohnstätte mit jener von Luke Skywalker aus dem ersten «Star Wars»-Teil in der Wüste. Wenn Ken allerdings anfängt, über Sand zu philosophieren, schalte ich weiter. Es ist mittlerweile 18.20 Uhr. Auf NICK wird nun irgendeine Kinderserie gezeigt, in deren Vorspann folgendes gesungen wird: „Was solln wir nur tun mit nem Genie in the House?“ Sitcoms selbst sind toll – Kinder-Sitcoms allerdings sind ein ekelhafter Wurmfortsatz, dessen Sinn und Humor sich Menschen ab zwölf Jahren wohl nicht mehr erschließt. Im DSF sehe ich Werbung von Hans-Werner Olm alias Luise Koschinsky, die für Darmkrebsvorsorge wirbt. Ein witziges Highlight inmitten sonstiger Grausam-Werbespots wie für den AbMax-Pro oder Getmobile. Weiter geht’s zu den Dritten. Gezeigt wird ein Raum mit Säugetierskeletten eines vermeintlichen Jägers, der in der afrikanischen Savanne auf Jagd gegangen sind. Die Reporterin fragt: „Warum haben Sie hier 200 Zebraköpfe hier, reicht nicht einer?“ Ich frage mich mittlerweile: Warum haben wir 40 schlechte Fernsehsender, reicht nicht ein guter?

Um 18.30 Uhr übermannt mich langsam die Müdigkeit angesichts des gähnend langweiligen Programms. Eine Disney-Serie kann mein Interesse bei Super RTL ebenfalls nicht wecken. Ich nehme allerdings einen sehr intelligenten Satz aus der Serie mit: „Insekten sind auch Menschen“. Phoenix zeigt eine Live-Sitzung aus dem Bundestag, in der gerade CDU-MdB Alexander Funk spricht. Kann es noch langweiliger werden? Natürlich, denn langsam gelange ich in die Regionen jener Fernsehsender auf den hinteren Plätzen vor, die ich normalerweise vermeide.

Channel 21, ein Shoppingsender, präsentiert Mode für die Frau. N24 zeigt «Tempo – Das Automagazin», in dem gerade versucht wird, einen Drift auf nasser Fahrbahn mit dem Audi R8 zu schaffen. „Rasen wie die Profis“ heißt das Motto. Ein Amateurrennen wird gefahren. Für Autofans und –interessierte ist dieses N24-Programm eine überraschend gute Alternative am Vorabend, die mich zumindest einige Minuten beim Nachrichtensender verweilen ließ. Weiter geht es mit dem KiKa, der die klassische Zeichentrickserie «Heidi» ausstrahlt. Eine Überraschung, dass eine solch alte Sendung heute noch – und das sogar am Vorabend – ausgestrahlt wird. Das berühmte Titellied von „Gitti und Erica“ nehme ich noch mit, bevor ich weiterschalte. Auf n-tv wird im «Ratgeber» über ökologische Einrichtungsgegenstände berichtet. Mir egal, ich kaufe weiter bei Ikea.

VIVA zeigt Musikvideos am Vorabend. Dies ist eines der interessanten Erkenntnisse dieses Experiments. Doch bevor ich mich weiter wundern kann, wird der Bildschirm von diversen SMS-Texten und Voting-Ergebnissen zugekleistert. Das Video von Rihanna tritt bei der ganzen blinkenden knallbunten Signalfarbenschrift in den Hintergrund. Hat sich eigentlich noch nie ein Künstler darüber beschwert, wie sein Musikvideo bei diesen Shows geradezu visuell vergewaltigt wird? Einige Sendeplätze weiter lande ich bei Eurosport, das live ein Spiel des Afrika-Cups überträgt. Ghana führt gegen Burkina Faso. Ob die deutsche Mannschaft bei der Fußball-WM Probleme gegen den Gruppengegner Ghana haben wird?

Um 18.50 Uhr zeigt arte eine Folge der klassischen Serie «Mit Schirm, Charme und Melone». Interessant ist besonders der Vergleich dieser Sendung aus den 60er Jahren mit aktuellen Formaten, die deutlich rasanter, dramatischer und schneller im Erzähltempo gestaltet sind. Ich frage mich, wie Serien in 50 Jahren aussehen müssen, wenn ich diese Entwicklung sehe. Nachdem ich von VIVA musiktechnisch enttäuscht wurde, überrascht mich MTV positiv. Das Format «M is for Music» strahlt offenbar Videos ohne nervende SMS-Chats aus und ist damit zukünftig eine interessante Alternative. Mit dieser Erkenntnis beende ich meine einstündige Reise durch das Fernsehprogramm mit vielen negativen, hauptsächlich aus der kollektiven Langeweile der Sendungen resultierenden Eindrücken, aber auch vereinzelt positiven. Nun geht’s zum Handball im ZDF. Das erste Spiel der deutschen Mannschaft bei der EM läuft. Leider kann Live-Sport nicht immer den Fernseh-Vorabend retten…
21.01.2010 11:45 Uhr Kurz-URL: qmde.de/39728
Jan Schlüter

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Eine Stunde Wahnsinn

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