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Popcorn und Rollenwechsel: Weihnachtstraditionen
Das gute und nervige im Kino, das auffällige und das, was im Verborgenen bleibt. Ob das Geschehen vor der Leinwand, auf der Leinwand oder hinter den Kulissen: Unser Filmkolumnist richtet sein waches Auge auf die Filmkultur und lässt uns wissen, was er von den Ereignissen rund ums Kino hält.
Über die Weihnachtsfeiertage machen viele Kinos dicht und der Rest setzt nur wenige Vorführungen an. Den Kinobetreibern seien die etwas arbeitsärmeren Tage ja auch Mal gegönnt, schließlich kann der filmsüchtige Mensch von heute seine benötigte Dosis an Filmen auch anderweitig besorgen. Gerade an den Weihnachtsfeiertagen platzten die Fernsehprogramme förmlich vor lauter Filmen, und eine feine DVD-Sammleredition findet sich unter immer mehr Tannenbäumen. Sofern nicht bereits eine neue Heimkinoanlage auf dem Gabentisch wartet, damit der geliebte Beschenkte mit HD-Equipment ins neue Jahrzehnt rutschen kann.
Bezüglich des filmischen Inhalts, der über die Feiertage hinweg verköstigt wird, pflegt jeder seine eigenen kleinen Weihnachtstraditionen.
Manch einer hofft sein vorhergegangenes, in Sünde verlebtes Jahr, durch intensives Bestaunen zahlreicher Bibelverfilmungen wieder gutzumachen. Egal, ob die früher zum öffentlich-rechtlichen Stammprogramm eines christlichen Feiertags gehörenden Fernsehverfilmungen oder die wesentlich besseren Kinoschinken von früher, wie etwa «Die zehn Gebote» mit Charlton Heston, die auch aus unchristlicher Perspektive als Filmklassiker anerkannt werden. Es interessiert nicht, ob diese Filme Zusammenhang zur ursprünglichen Weihnachtsgeschichte haben, oder lediglich aus dem gleichen Buch stammen - Hauptsache sie ersetzen dem weihnachtlichen Bibelfilmgucker den alljährlichen Kirchenbesuch.
Andere, vor allem Leute mit jüngeren Kindern, schauen sich sämtliche von diesen kitschigen, bescheiden animierten Kinderfilmen über “die wahre Bedeutung von Weihnachten” an, welche zur Weihnachtszeit das Fernsehprogramm verstopfen, wie das fettige Weihnachtsessen die Arterien. Es sind Film gewordenen Zuckerschocks über singende Schneemänner, die sich einen Bagger zu Weihnachten wünschen, und lernen müssen, dass sie sich stattdessen über das große Karottenbuffet mit der Familie freuen sollten oder weihnachtliches Opium über rotnasige Rentiere, die von allen ausgegrenzt werden und mit Hilfe eines sprechenden Schokopuddings das Herz einer katzenzüngigen Weihnachtselfe erobern. Wie man sich freiwillig solchen Höllenqualen aussetzen kann, ist mir unbegreiflich. Vielleicht ist es als Sündenbestrafung gedacht, um mit ausgeglichenem Karma-Konto ins neue Jahr zu starten.
Eine immer größere Verbreitung findende Weihnachtstradition, vor allem unter Männern, ist der Actionfilm-Marathon. Wo kann man seine beim hastigen, verspäteten Geschenkekauf in überfüllten Kaufhäusern und beim bemühten Anhören lästiger Anekdote der Schwiegermutter aufgebauschten Aggressionen besser abbauen, als bei Testosteron geladenen, knallharten und mit spritzigen Einzeilern gespickten Actionkrachern? Allen voran natürlich der große Weihnachtsfilm «Stirb langsam», in dem Bruce Willis in seiner Paraderolle als John McClane mit zynischen Sprüchen den perfekten unfreiwilligen Helden abgibt. Und wenn man schon dabei ist, kann man sogleich die restlichen drei Teile der Reihe einlegen. Zum Nachtisch gibt es dann ein oder zwei Blockbuster mit Will Smith oder hübsch-hirnlose Action mit Schwarzenegger oder Stallone. Da rummst es unter dem Tannenbaum, wenn die frisch ausgepackte Dolbyanlage mit einer gewaltigen Explosion entjungfert wird.
Wer es etwas familiärer mag, der kann sich über die Weihnachtstage ja durch sein kleines Archiv an Disney-Zeichentrickklassikern arbeiten. Diese zeitlosen Meisterwerke riefen mit dem Alter und können immer wieder aufs neue entdeckt werden. Und das beste: Anders als bei «Stirb langsam» und Co. muss man beim Verfolgen dieser Weihnachtstradition nicht darauf achten, dass man die ganzen Nichten, Neffen und kleinen Quälgeister aus eigener Produktion zusammen mit den bereits abgenutzten oder gar verwüsteten Weihnachtsgeschenken in einem abgeschotteten Raum einsperrt. Vor einem musikalischen Ausflug in die Welt Disneys kann sich die ganze Familie versammeln. Na okay, fast die ganze Familie. Den streng alternativen, jugendlichen Neffen, der einem die ganze Zeit vorjammert, wie beleidigend dieser amerikanische Imperialistenquatsch sei, und wie sehr er die armen entindividualisierten Seelen bedauert, die mit dieser Einheitsernährung für den Geist für immer verzogen wurden, ja, den sollte man vielleicht doch besser zusammen mit etwas Holzspielzeug und seinem vollkommen un-kommerziellen, randvollen iPod in die Küche einsperren.
Irgendwer muss ja den Abwasch machen, während man das Bonusmaterial seiner «Der Herr der Ringe»-Sammleredition durchforstet oder sich zum achtundsiebzigsten Mal «Der Glöckner von Notre Dame» und «Schneewittchen und die sieben Zwerge» anschaut, um endlich im Schlaf die Lieder mitsingen zu können.
Egal ob Sie die kommenden Festtage mit Bibelfilmen, billigem Kinderprogramm, lauter Action, Disney-Klassikern oder ganz ohne Filme verbringen: Ich wünsche sämtlichen Lesern ein frohes Fest und ein paar besinnliche Stunden.
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Tags
• Popcorn
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