Wembley 1966, WM-Finale zwischen England und Deutschland. Und ein Tor, das den gesamten Fußball für immer verändern sollte.
Quotenmeter.de blickt in einer neuen Reihe auf die größten TV-Ereignisse aller Zeiten zurück – auf jene Momente, die nicht nur das Fernsehen verändert haben.
Eine goldene Generation
Mit dem damals 20-jährigen Franz Beckenbauer, Wolfgang Overath, Uwe Seeler, Siggi Held oder Lothar Emmerich standen bei der Fußball-WM 1966 deutsche Spieler auf dem Platz, die später in ihrem Land als Fußballer einer „goldenen Generation“ bezeichnet werden sollten, obwohl sie von dieser WM in England nicht als Gewinner nach Hause reisen konnten. Die Art und Weise, wie sie das Finale verloren hatten, sollte zum Mythos werden und nicht nur in die Fußball-, sondern auch in die Fernsehgeschichte eingehen.
30. Juli 1966: Im Londoner Wembley-Stadion wird das Finale der Fußball-Weltmeisterschaft zwischen England und Deutschland ausgetragen. Die Kulisse ist hergerichtet; das englische Team mit klarem Heimvorteil. Helmut Haller und Geoff Hurst sorgen in den ersten 20 Minuten des Spiels für frühe Tore, einen zwischenzeitlichen Führungstreffer der Engländer kann Wolfgang Weber in der Nachspielzeit ausgleichen – es gibt Verlängerung. In der 98. Minute dann die Szene, die den Fußballsport verändern soll: Geoff Hurst schießt den Ball an die Latte, dieser springt nach unten und wird schließlich von Weber ins Aus geköpft. Ist der Ball hinter der Linie oder nicht? Der Schiedsrichter lässt das vermeintliche Tor gelten; die deutsche Mannschaft ist am Boden zerstört. England gewinnt das WM-Finale und brennt einen bis heute andauernden Schmerz in die deutsche Fußballerseele. Noch immer sind den damals Zuschauenden die Fernsehbilder im Kopf, die Geschichte geschrieben haben:
Mittlerweile ist der Begriff „Wembley-Tor“ für solche strittigen Spielszenen völlig geläufig. Die nun schon seit Jahrzehnten andauernde Gretchenfrage, ob es ein Tor war oder nicht, hat zu vielen Diskussionen und Rivalitäten geführt. Auch wegen dieses Mythos gilt jede Partie zwischen Deutschland und England heute als der Fußballklassiker schlechthin. Nach dem Finale erklärte die FIFA damals, dass das Tor wohl irregulär gewesen sei. Heutzutage kann auch mit wissenschaftlichen Methoden bewiesen werden, dass der Ball nicht im vollen Umfang hinter der Torlinie aufprallte. Genau deswegen fühlen sich die Deutschen noch heute um einen WM-Titel betrogen.
Die Bedeutung für das Fernsehen
Die Wembley-Szene ist deswegen für das Fernsehen so interessant und prägend gewesen, als dass die TV-Kameras und das Bild eine entscheidende Rolle für die Geschichte dieses Duells zwischen Deutschland und England gespielt haben. Nicht nur, dass sowohl die Übertragungen mit deutschem Kommentar von Rudi Michel oder dem englischen BBC-Kommentar als legendäre Szenen der TV-Geschichte gelten, sondern auch, weil das Fernsehen in dieser Situation machtlos wirkte. Ein „allwissendes“ Medium, das zu dieser Zeit die Welt im Sturm eroberte und völlig neue Perspektiven ermöglichte, konnte nicht zur Aufklärung des Streitfalls Wembley beitragen, denn die Kameras lieferten keinen Beweis für oder gegen das Tor. Das Fernsehen machte den Wembley-Mythos erst möglich.
Passiert ein Wembley-Tor in heutiger Zeit, kann mit ziemlicher Sicherheit durch die dutzenden am Spielfeldrand und im Tor selbst postierten Kameras eine gute Aufklärungsarbeit geleistet werden. Doch Wembley wurde, so verrückt es klingen mag, gerade wegen des „machtlosen“ Fernsehbildes zum Mythos, weil durch die ungenauen Bilder erst die Diskussionen um die Rechtmäßigkeit des Tores entstanden. Noch heute streiten sich Mannschaften über solche Tore, der klärende Chip im Ball oder Videobeweise könnten längst eingesetzt werden, um die Diskussionen zu verhindern. Aber genau diese will die FIFA am Leben erhalten und verzichtet auf Technik – um vielleicht irgendwann ein zweites Wembley zu erschaffen, das erneut in die Geschichte eingeht. Für die einen war der 30. Juli 1966 eine glückliche, für die anderen eine unglückliche Fügung. In jedem Fall bescherte uns Wembley einen der wichtigsten Momente der Fernsehgeschichte. Ein verspätetes Happy End gab es für die deutsche Nationalmannschaft dennoch: Den Traum vom Weltmeisterschaftstitel erfüllten sich die Overaths, Beckenbauers und Netzers acht Jahre später.
12.10.2009 10:12 Uhr
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Jan Schlüter