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«1 Stunde Wahnsinn»: Dem Fußballrausch entkommen

Philipp Stendebach ist wirklich kein Fußballfan und suchte am Montagabend eine Alternative zur Begegnung Österreich und Deutschland.



Es ist Montag. Der 16. Juni 2008. Punkt 22 Uhr. Ich befinde mich nicht auf einer Public Viewing-Meile und sitze auch nicht mit einer Büchse Bier auf der heimischen Couch, um Fußball zu gucken. Was treibe ich dann? Ich bin tatsächlich einer der ein, zwei Menschen, die sich an diesem Abend um diese Uhrzeit ein anderes TV-Programm gönnen. Ich habe im Gegensatz zu anderen „Versuchskaninchen“ sogar in die Fernsehzeitschrift geguckt, um zu erfahren, was ich auf keinen Fall verpassen darf. Denn ich rechne natürlich mit absolutem Premium-Programm. Es kann los gehen...



Mein Trip beginnt bei RTL II. Anscheinend wurde gerade eine Entscheidung gefällt, denn keiner redet. Nur Marcel schaut an die Studio-Decke und betet. Dann erfahre ich: Er ist derjenige, der auf jeden Fall im Haus bleiben darf. Halleluja. Nach geschlagenen zwei Minuten der sogenannten Live-Schalte ist «Big Brother» höchst persönlich so gelangweilt von den untätigen Bewohnern, dass es weitergeht. Gut so, denn sonst hätte er noch einen Zuschauer weniger gehabt. Nun sieht man Caro, die Ex-Bewohnerin, mit Charlotte, einer der Moderatorinnen, in einem Backstage-Raum sitzen. Sie reden zum x-ten Mal über die Liebschaft mit Alex. Das ist mir dann erst einmal genug und ich schalte um, wartend auf gute Unterhaltung.



Mein Weg führt mich zu Sat.1, wo gerade die Polizei-Doku «Toto & Harry» läuft. Ganz ehrlich: Schon allein des Titels wegen blieben mir die Storys der Polizisten bis jetzt immer erspart. Doch leider bietet das Fußballspiel nicht besonders viel Alternativprogramm. Toto und Harry laufen also mit Taschentüchern vor der Nase in einem Gebäude herum. Aha. Sie dringen in eine Messie-Bude ein, die total verdreckt ist. Plötzlich packen sie Luftsprays aus und gehen, mit ihnen bewaffnet, in das ekelerregende Badezimmer. Doch Halt – Stopp! Aus heiterem Himmel kringeln sich die Beamten vor Lachen und kriegen sich nicht mehr ein. Spätestens an diesem Zeitpunkt fragt man sich, ob es sich bei den genannten Herrschaften nicht um Berufsuntätige handelt, die einfach in ein Faschings-Kostüm gesteckt wurden. Nachdem Harry bei der Dienstbesprechung anfängt, von seiner „Pillehaut“ zu reden, ist es Zeit, umzuschalten.







Doch wohin? Welche Hochglanz-Produkte stehen denn noch zur Auswahl? Hm... ok. Einen kurzen Blick zur ARD, es steht bereits 1:0 für Deutschland. Der Sprecher redet von einer Riesengelegenheit, die nicht wahrgenommen wurde. Meinetwegen, aber ich werfe lieber einen Blick auf das RTL-Programm. Hier wird gerade «Extra» mit der unheimlich charmanten Birgit Schrowange gezeigt. Die Verantwortlichen der Dokumentations-Sendung meinten wohl, es sei mal wieder an der Zeit, zu zeigen, wo genau die Unterschiede zwischen Mann und Frau liegen. Obwohl auch andere Sender gerne auf diesen Mythos zurückgreifen, handelt es sich aus meiner Sicht insbesondere um eine RTL-Krankheit. Nun ja, vielleicht gibt es was Neues. Aber Nein! Es wird festgestellt, dass Frauen viel belastbarer sind und das wird sofort an einem Beispiel belegt, indem man einem Azubi die Aufgaben gibt, Kaffee zu kochen, zu kopieren und zu telefonieren. Das bekommt er nicht hin. Und somit wird festgehalten: Frauen sind multitasking-fähig, Männer nicht. Ganz neue Erkenntnisse aus dem Hause RTL.



Bei Super RTL geht es noch weitaus innovativer zu: Hier werden nämlich in «voll total» (Was dieser Name zu bedeuten hat, ist mir bis dato unbekannt) altbewährte RTL-Talkshows verwertet. Als erstes werde ich mit einer Hausfrau konfrontiert, die bei Oliver Geissen auf der Couch sitzt und ihren Mann mit einem sexy Outfit überraschen möchte. Das tut sie dann auch. Es drängt sich nur wie so oft die Frage auf, warum sich diese Frau nicht im Schlafzimmer umstylen kann, sondern von Millionen Zuschauern dabei bestaunt wird. Ein Phänomen, das ich noch nie verstanden habe. Schnitt. Nun ist Bärbel Schäfer an der Reihe. Ein Mann beschwert sich, er hätte immer das Gefühl, Karl Marx zu küssen, da seine Frau einen Bart trägt. Diese kommt dann auch gleich herein und sagt, sie habe keinen Bock, sich zu rasieren. Ich halte mir lieber Ohren und Augen zu, bis der Moderator, der in einem Studio steht, gegen das Margarethe Schreinemakers Eigenheimbau wie ein Top-Hochglanz-Studio wirkt, den nächsten Clip ankündigt. Den zeigt er jedoch nur den verbliebenen 0,5 Zuschauern. «Big Brother» wartet.



Bei RTL II wird die Top 5 der Woche gekürt, was leider auch nicht wirklich meinem Interesse entspricht. Trotzdem bleibe ich am Ball. Man solle ja die Hände von der Fernbedienung lassen, es stünde immer noch 1:0 und man würde nichts verpassen. Da man aber bei RTL II offensichtlich auch nichts verpasst, folge ich nicht dem Rat der Moderatorin und schalte um. Es sind nur noch vier Minuten Spielzeit, es hat sich noch nichts geändert. Bei mir ist allerdings schon die Halbzeit eingesetzt. Deswegen erinnere ich mich an den Beginn meiner Erlebnisreise, also an «Toto & Harry». Harry lacht einen im Polizei-Wagen sitzenden Kriminellen aus, Grund ist mir unbekannt. Danach wird beteuert, die Fälle seien alle real und wahrheitsgetreu. Wenn sie meinen... Derweil beginnt die «Spiegel TV Reportage» und dokumentiert den Alltag im Bundestag. Über 5.000 Menschen arbeiten dort und justieren Lampen, sortieren Post oder putzen die Scheiben. Eigentlich recht interessant, doch man könnte irgendwo etwas verpassen.



Das HR-Promiquiz wartet auf mich. Leider sind mir die „Promis“, die neben Susanne Fröhlich und dem Spiegel-Chef stehen, weitgehend unbekannt. Mit hessischem Dialekt wird hier jede noch so knifflige Frage beantwortet, beispielsweise, was ein Steißtrommler sei. Auch mir war neu, dass es sich dabei um einen Lehrer handelt. Als Susanne Fröhlich anfängt, von Moppel-Ich, Runzel-Ich und Fettpolstern am Oberarm zu reden, ist es allerhöchste Zeit, das Programm zu wechseln.



Ich lande erneut bei «Extra» und lausche den wunderbaren Wortwitzen der Redaktion: Mit „Kaufst du noch oder staunst du schon?“ leitet Birgit Schrowange einen Beitrag über eine IKEA-Filiale in Peking ein. Den Bewohnern der Metropole geht es allerdings darum, dort Leute zu treffen, in den Betten herum zu liegen und die Klimaanlage zu genießen. Kaufrausch? Fehlanzeige. Interessanter Fakt: In China kann man keine Doppelbetten oder Hochbetten für Kinder kaufen, weil wegen der Bevölkerungsexplosion die „1-Kind-Politik“ betrieben wird. Leider ist der der interessante Beitrag zu Ende und ich wage noch mal einen Blick zur ARD: Merkel redet gerade mit Beckmann und der Ausbruch des Jubels wird gezeigt. Das hat man aber schon ausgelassener gesehen...



Zuletzt schalte ich zu ProSieben, wo «Predator» aus dem Jahre 1987 läuft. Na super. Die Bild- und Tonqualität ist so schlecht, dass man fast nichts erkennen kann. So endet dann auch mein Selbstversuch. Und das einzige, was festzuhalten bleibt, ist die Tatsache, dass man der Fußball-Euphorie nur entkommen kann, wenn man nicht fernsieht und so am eigenen Leib erfährt, was für ein schreckliches Nebenprogramm geboten wird.
17.06.2008 12:28 Uhr Kurz-URL: qmde.de/27949
Philipp Stendebach

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1 Stunde Wahnsinn

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