‚Wir wollten die Bedrohung spürbar machen – ohne sie zu ästhetisieren‘

Für die Doppelfolge wagt der «Tatort» einen seltenen Schritt: 180 Minuten Organisierte Kriminalität, grenzüberschreitende Ermittlungen und eine Realität, die näher an uns heranrückt, als vielen lieb ist. Im Interview sprechen Eva Wehrum und Alexander Adolph über Recherche, Verantwortung und den Mut, die Ermittlerwelt von Falke, Schmitt und Lynn de Baer radikal neu zu denken.

Aus einer SPIEGEL-Titelgeschichte wird selten ein «Tatort», wie jetzt mit der Doppelfolge „Ein guter Tag“ und „Schwarzer Schnee“. Was war Ihr dramaturgischer Schlüssel, um die Recherche (u. a. von Jürgen Dahlkamp) in einen dreistündigen Spannungsbogen zu übersetzen?
Ein Treffen in einem italienischen Restaurant an der Elbe. Jürgen Dahlkamp vom „Spiegel“ hat die Bedrohung von Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit durch Drogengeschäfte so nüchtern und gleichzeitig plastisch geschildert. Das Gespräch mit ihm war der Auslöser, der Schlüssel zu dieser Arbeit.

Warum zwei aufeinanderfolgende 90-Minüter statt eines Einteilers – welche erzählerischen Möglichkeiten hat Ihnen die „180-Minuten-Architektur“ eröffnet (Rhythmus, Spannungsplateaus, Perspektivwechsel, Cliff am Episodenwechsel)?
Wenn man von organisierter Kriminalität und mafiösen Strukturen erzählt, ist die Seite der Täter eigentlich immer ein Teil der Erzählung. Oft werden solche Geschichten sogar fast ausschließlich aus Tätersicht geschildert – denken Sie an «Der Pate», «Peaky Blinders» oder das niederländische «Mocro Maffia». Es war reizvoll und natürlich auch eine Herausforderung, so etwas für das Ermittlerformat «Tatort» zu entwickeln: Die 180 Minuten erlauben es, verschiedene Handlungsstränge um verschiedene Ermittler und Akteure einer Handlung, die in den Niederlanden und in Deutschland spielt, so aufzubauen wie die ersten vier Folgen einer Serie – mit der hoffentlich entsprechenden Sogwirkung.

Die Figur des jugendlichen Auftragskillers wirkt wie „Truth is not fiction“. Wie haben Sie die Balance zwischen dokumentarischer Nähe und verantwortungsvoller Fiktion gefunden, ohne zu reißerisch zu werden?
Von Mark Twain stammt ja der Satz, dass die Wahrheit viel seltsamer sei als die Fiktion, weil die Fiktion immer logischen Regeln gehorche, die Wahrheit aber nicht. Und wir leben oft mit der Fiktion, dass jene, mit denen es das Schicksal besonders schlecht meint, auch mit einem goldenen Herz gesegnet sein sollen. Das ist in Wirklichkeit nicht immer so. Ein goldenes Herz muss man sich leisten können. Insofern schlägt unser erzählerisches Herz auch für den jugendlichen Auftragskiller. Dass jemand eigentlich nichts mit dem Verbrechen zu tun haben möchte, aber trotzdem hineingezogen wird – durch ein kleines Zugeständnis, einen kleinen Fehler –, das ist leider sehr realistisch.

Gemeinsam schreiben Sie seit Jahren erfolgreich zusammen. Wie sah die Aufgabenverteilung hier aus – wer hat welche Stränge (Falke/Schmitt, Lynn de Baer, Mafia-Kosmos) getrieben?
Bei uns machen alle alles. Das geht, weil wir zu zweit sind.

Falke bekommt Mario Schmitt zur Seite gestellt. In welchem Spannungsfeld aus Kopf (Schmitt) und Bauch (Falke) wollten Sie die Figuren reiben lassen – und was macht Schmitt für Sie als modernen Ermittler aus?
Das Interessante an Schmitt ist, dass er bestimmte als männlich geltende Handlungsmuster ins Leere laufen lässt. Und man kann jetzt sagen: „Das ist ein Nerd, der in seiner eigenen Welt lebt.“ Oder man kann sagen: "Das ist ein guter Ermittler, jemand, der sich nicht so einfach provozieren lässt, der nicht gut einzuschätzen ist, der Gefühle zeigt, sich dennoch nicht in die Karten blicken lässt, sehr oft schlauer als die anderen und dabei immer so dreinschaut, als ob er kein Wässerchen trüben könnte." Wenn Sie fragen, was daran modern sei: IT und KI spielen immer wichtigere Rollen – auch bei der Polizeiarbeit. Da braucht man Spezialist:innen, die jene großen Zusammenhänge sehen, für die die künstliche Intelligenz zu einfältig ist. Leute, die Informationen anders interpretieren können und interdisziplinäre Schlussfolgerungen ziehen. Leute wie Mario.

Wie stark haben Sie die Figur Mario Schmitt nach dem Casting von Denis Moschitto nachgeschärft (Kommunikationsstil, „Denkmusik“, Eigenheiten) – und welche offenen „Köder“ zur Backstory legen Sie bewusst für künftige Fälle?
Die Redaktion hat den Namen Denis Moschitto genannt, und wir fanden die Idee sehr gut – und zwar aus demselben Grund: weil wir ihn in seinem Film «Schock» gesehen hatten, den er übrigens auch mitgeschrieben und inszeniert hat. Er spielt darin einen Arzt ohne Approbation, der illegal arbeitet – wir fanden das extrem gut. Das Casting hat dann gezeigt, dass es der richtige Weg war. Und sicherlich wissen wir eine Menge Dinge über die Figur und ihren Werdegang. Denis Moschitto wird mit diesen Geheimnissen umgehen und letztlich zu Marios Anwalt werden.

Die „Mocro-Mafia“ steht für grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. Wo sind Sie real nah dran geblieben – und wo haben Sie aus dramaturgischen Gründen verdichtet oder verlegt?
Wir beschreiben ja Strukturen in der mittleren und unteren Ebene des Verteilungskampfs des organisierten Verbrechens in Europa und bemühen uns um Wahrhaftigkeit in der Abbildung bestimmter Abläufe. Wir versuchen zu vereinfachen und Dinge zum Teil weiterzudenken. Als wir mit den Recherchen begannen, hatten die Ermittler, mit denen wir sprachen, bis auf die EC-Automatensprengungen keine auffälligen Aktivitäten der sogenannten Mocro-Mafia in Deutschland beobachtet. Wie schnell sich das ändern kann, hat man gesehen: Als wir mit den Büchern fertig waren, begannen dann die Auseinandersetzungen zwischen niederländischen und deutschen Akteuren der OK in Köln. Insofern hat sich das, was wir geschrieben haben, dann eingestellt. Uns wäre es lieber, wenn es fiktiv geblieben wäre.

Dreisprachiges Erzählen (Deutsch/Niederländisch/Arabisch) im Prime-Time-Krimi: Was gewinnt man an Authentizität – und welche Schreibhürden oder Expositionsprobleme entstehen dadurch im Drehbuch?
Wenn Charaktere ihre eigenen Sprachen sprechen, ist das aus unserer Sicht sehr authentisch, und es macht großen Spaß zu schreiben. Inszenatorisch ist es eine größere Herausforderung, und am Schneidetisch sieht man dann, inwieweit das funktioniert. Wir finden, dass es den Kolleg:innen sehr gut gelungen ist.

Hans Steinbichler drehte mit „kleinem Besteck“, sehr beweglich, gleichzeitig cineastisch. Schreiben Sie Szenen/Sequenzen heute schon mit Blick auf solche Produktionsrealitäten – oder bleibt das Buch bewusst „formatagnostisch“?
Es gibt eine ökonomische Realität. Die muss man als erzählerische Herausforderung begreifen. Dann erzählt man etwa nur den kleinen Ausschnitt eines großen Festes und gibt dem Zuschauer trotzdem das Gefühl, dass er ein großes Fest erlebt. Aber Szenen und Dialoge sind mitunter komplex, weil mehrere Charaktere miteinander sprechen und sich innerhalb eines Raumes bewegen. Und dieses „kleine Besteck“ des Kameramanns Alexander Fischerkoesen erlaubt es eben, komplexe dramatische Szenen mit mehreren Kameras schnell und cineastisch zu drehen. Und das erlaubt wiederum uns als Autoren, diese Szenen nicht ihrer Komplexität berauben zu müssen.

Wie wollten Sie die Bedrohungslage fühlbar machen, ohne Gewalt zu ästhetisieren (Stichworte: Folter, Explosionen, „Fehlleistungen“ unprofessioneller Täter) – welche inneren Bilder haben Sie bewusst vermieden?
Wir glauben, dass Gewalt und Grauen in dem Moment, wo sie abgebildet werden, eigentlich schon ihren Schrecken verlieren. Was uns interessiert, ist das, was Gewalt vorangeht, und die Schneise, die sie hinterlässt – also die Reaktion auf Gewalt. Und wir zielen im Prinzip darauf ab, dass der Zuschauer diese Bilder mit seiner eigenen Version auffüllt – was natürlich immer viel schlimmer ist als das, was man zeigt.

Welche Linie hatten Sie für Falke/Schmitt/Lynn de Baer als Dreieck – und wo sehen Sie nach diesem Doppel die Entwicklungsmöglichkeiten für das künftige Bundespolizei-Setting?
Es wäre extrem spannend, wenn die drei noch einmal zusammen ermitteln würden. Auch Lynn de Baer ist eine Figur, über die man noch sehr viel mehr erzählen kann. Das ist eine Entscheidung des Senders.

Nach 180 Minuten: Was soll im Idealfall beim Publikum „hängen bleiben“ – politisch (Drogen-/Geldwäsche-Realität), emotional (Figurenbindung) und formal (Mut zum langen, international gedachten «Tatort»)?
Wenn diese besondere «Tatort»-Doppelfolge mit dieser Figurenkonstellation, die uns sehr am Herzen liegt, bei den Zuschauer:innen gut ankommt, und wenn sich die eine oder der andere nach dem Film ein bisschen mehr mit der Thematik dieses wirklich bedrohlichen, finsteren Wirtschaftszweiges auseinandersetzen würde – das würde uns freuen.


Vielen Dank für Ihre Zeit!

Die Doppelfolge „Ein guter Tag“ und „Schwarzer Schnee“ wird am Sonntag, den 21. Dezember 2025, ab 20.15 Uhr ausgestrahlt. Im Anschluss landen die zwei «Tatort»-Filme in der ARD Mediathek.
20.12.2025 12:18 Uhr Kurz-URL: qmde.de/167165
Fabian Riedner

super
schade


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Tags

Tatort Der Pate Peaky Blinders Mocro Maffia Schock

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