Buchclub: „0 1 2“

Ein wiederauferstandener Schelm in einer Welt, die den Verstand verloren hat. Der Österreicher Daniel Wisser hat einen neuen Roman verfasst.

Mit „0 1 2“ (Null Eins Zwei) meldet sich der österreichische Schriftsteller Daniel Wisser mit einem Roman zurück, der gleichermaßen klug, komisch und tief melancholisch ist. Wie schon in seinen preisgekrönten Vorgängerwerken („Königin der Berge“, „Wir bleiben noch“) gelingt es Wisser, existenzielle Fragen des Lebens mit scharfem Humor und sprachlicher Leichtigkeit zu verbinden. In „0 1 2“ erzählt er die Geschichte eines Mannes, der nach 30 Jahren im Kälteschlaf zurückkehrt – und in einer Welt landet, die ihm fremder ist als der Tod.

Hauptfigur Erik Montelius war einst ein gefeierter Computerentwickler. Doch dann starb er – oder besser gesagt: er wurde konserviert. Jahrzehnte später gelingt es der Wissenschaft, ihn als ersten Menschen weltweit aus der Kryokonservierung zurückzuholen. Eine wissenschaftliche Sensation, die zugleich ein groteskes Menschenexperiment ist. Erik bezeichnet seine Existenz fortan nicht mehr als bloßes Leben und Sterben, sondern als drei Phasen: erstes Leben, zweites Leben, Tod. Doch die Rückkehr ins Leben ist alles andere als triumphal. Seine Frau hat in der Zwischenzeit seinen ehemaligen Geschäftspartner geheiratet, der obendrein seine Ideen gestohlen hat. Die Menschheit scheint von Krisen und Selbsttäuschung beherrscht: Menschen tragen Masken, wischen gedankenverloren auf ihren Smartphones herum und haben den Glauben an eine bessere Zukunft längst aufgegeben. Erik steht buchstäblich nackt im neuen Leben – ohne Geld, ohne Zuhause, ohne Identität. Und doch beschließt er, sich nicht unterkriegen zu lassen. Er ist ein moderner Schelm, einer, der das Absurde der Gegenwart erkennt und mit Ironie begegnet.

Wie in den großen literarischen Traditionen des Schelmenromans – von Cervantes’ Don Quijote bis zu Grimmelshausens Simplicissimus – nutzt Wisser seinen Helden, um die Gegenwart zu spiegeln. Erik Montelius ist ein Beobachter und Kommentator, der mit naiver Neugier auf die Welt blickt, in die er zurückgekehrt ist. Er versteht weder die digitale Besessenheit noch die moralische Gleichgültigkeit seiner Mitmenschen. Sein zweites Leben wird zu einem philosophischen Roadtrip durch die Krisen des 21. Jahrhunderts: Klimawandel, politische Polarisierung, Identitätsverlust, soziale Kälte. Doch anstatt diese Themen pathetisch oder moralisch aufzuladen, erzählt Wisser sie mit feinem Spott und lakonischem Humor. Erik erkennt, dass das vermeintliche Fortschrittszeitalter nichts anderes hervorgebracht hat als neue Abhängigkeiten. Technologie hat das Leben zwar verlängert, aber nicht verbessert. Moral ist zu einem Algorithmus geworden, Kommunikation zu Oberflächenrauschen. Und doch findet er inmitten all dieser Absurdität einen Funken Freiheit – gerade weil er von Amts wegen nicht existiert. Als juristisch „toter“ Mann kann er sich außerhalb der Regeln bewegen, die alle anderen gefangen halten.

Wisser nutzt diese skurrile Prämisse, um eine tiefsinnige Meditation über Identität, Fortschritt und die Sehnsucht nach Bedeutung zu entfalten. Erik Montelius ist kein klassischer Held, sondern ein Suchender. Er fragt sich, was Menschsein eigentlich heißt, wenn selbst der Tod überlistet werden kann. Der Roman wirft große Fragen auf: Was bleibt von uns, wenn unsere Ideen geklaut, unsere Daten gespeichert, unsere Körper eingefroren werden? Was bedeutet Leben in einer Zeit, in der alles simuliert und nichts mehr erlebt wird? Und vor allem: Kann man im zweiten Leben noch einmal neu anfangen – oder wiederholt man nur die Fehler des ersten?

Stilistisch bleibt Wisser seiner Linie treu. Seine Sprache ist schnörkellos, rhythmisch und durchzogen von Ironie. Er beobachtet scharf, aber nie zynisch. Seine Dialoge sind pointiert, sein Erzählen leichtfüßig – und gerade deshalb so wirkungsvoll. Der Humor ist trocken, manchmal schwarz, immer präzise. Wenn Erik etwa feststellt, dass „die Menschen sich weniger verändert haben als die Geräte, die sie benutzen“, klingt das gleichermaßen komisch und bitter. Wisser gelingt es, Philosophie und Alltagswitz zu verbinden, ohne den Leser zu belehren. Dabei ist „0 1 2“ auch ein Stück österreichische Gesellschaftsliteratur: Diese Welt, in der Bürokratie wichtiger ist als Menschlichkeit, in der Technologie mehr verspricht, als sie hält, erinnert in ihrer Kälte durchaus an Kafka – nur mit WLAN.

Daniel Wisser schreibt in „0 1 2“ über die Gegenwart, aber eigentlich meint er die ewige menschliche Verfassung: unsere Angst vor dem Verschwinden, unseren Drang nach Bedeutung, unsere Unfähigkeit, aus Geschichte zu lernen. Erik Montelius’ Wiedergeburt ist weniger eine technische Errungenschaft als eine existenzielle Prüfung. Dass er schließlich einen Buchvertrag erhält und die Wahrheit über seinen „ersten Tod“ aufdecken will, ist mehr als ein erzählerischer Kniff: Es ist Witz und Selbstreflexion zugleich – denn was ist Literatur anderes als der Versuch, das eigene Leben zurückzuschreiben?

„0 1 2“ ist ein kluger, origineller und wunderbar eigenwilliger Roman über das Leben im 21. Jahrhundert – über Technologie, Macht, Liebe, Verlust und die Sehnsucht nach Sinn. Daniel Wisser gelingt es, mit Leichtigkeit über Schweres zu schreiben. Erik Montelius ist ein moderner Antiheld, der mit trockenem Humor durch eine Welt stolpert, die den Fortschritt verwechselt mit Glück. Seine Geschichte ist komisch, tragisch, menschlich – und aktueller, als man denkt.
16.12.2025 12:56 Uhr Kurz-URL: qmde.de/166578
Sebastian Schmitt

super
schade


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