Die Regisseure Annette Baumeister und Paul Wiederhold von «Mao – Chinas roter Kaiser» sprechen bei der aktuellen chinesischen Regierung von einem modernisierten Maoismus.
Was hat Sie persönlich am meisten an der Figur Mao Zedong fasziniert, als Sie mit der Arbeit an diesem Projekt begonnen haben?
Annette Baumeister: Als Historikerin und Filmemacherin fasziniert mich weniger Mao selbst, als vielmehr die Frage, wie aus einem Mann aus einfachen Verhältnissen, der nicht besonders redegewandt war, ein so mächtiger Herrscher werden konnte. Es geht um die Mechanismen der Macht und die dunkle Seite des menschlichen Potenzials. Mein Ziel war es, mich dieser komplexen Figur so objektiv wie möglich zu nähern. Ich wollte verstehen und erklären, welche Wirkung Mao auf Menschen hatte und weshalb unter seiner Herrschaft Millionen Menschen starben. Es ging mir nicht um Faszination im positiven Sinne, sondern um die Notwendigkeit, diesen Teil der Geschichte aufzuarbeiten. Die Auseinandersetzung mit Mao ist entscheidend, um das heutige China zu verstehen.
Paul Wiederhold: Mein Interesse an der historischen Figur Mao Zedong hatte zu Beginn eher einen privaten Hintergrund: Zu verstehen, was meine Elterngeneration in der Studentenbewegung an Mao fasziniert hat und wie ein autokratischer Herrscher zu einem Idol und einer Projektionsfläche für linke Bewegungen im Westen werden konnte. Die Dimension der Wirkmächtigkeit des Maoismus für das heutige China kam dann während der Arbeit am Projekt hinzu.
In der Dokumentation «Mao - Chinas Roter Kaiser» beleuchten Sie Maos Weg vom Revolutionär zum Staatsführer. Welche Aspekte von Maos Leben und Handeln sind Ihrer Meinung nach für das heutige China am relevantesten?
Annette Baumeister/ Paul Wiederhold: Maos Einfluss ist auch heute noch deutlich zu spüren. Er hat China wieder zu einer starken Nation gemacht – dafür sind ihm viele Chinesen nach wie vor dankbar. Seine tiefgreifenden Veränderungen in der Gesellschaft wirken bis heute nach. Die Kommunistische Partei, die er an die Spitze brachte, bestimmt immer noch alleinig die Politik. Auch seine Vorstellung eines unabhängigen Chinas prägt die heutige Außenpolitik. Selbst in der Art, wie politische Macht heute dargestellt wird, lassen sich noch Spuren von Maos Einfluss erkennen.
Der "Lange Marsch" und der "Große Sprung nach vorn" sind zwei Schlüsselereignisse in Maos Herrschaft. Gab es bei den Recherchen Momente, die Sie emotional besonders berührt haben?
Annette Baumeister: Ja, es gab wirklich Momente, die mich zutiefst bewegt haben. Besonders die Zeitzeugenberichte über den „Großen Sprung nach vorn“ und die Kulturrevolution – das sprengt einfach jede Vorstellung. Menschen, die vor Hunger Ledergürtel auskochen, um irgendetwas im Magen zu haben. Während der Kulturrevolution bricht das gesamte gesellschaftliches Gefüge auseinander. Kinder wenden sich gegen Eltern, Schüler töten ihre Lehrer und Professoren. Und mittendrin Mao, der das alles dirigiert, Gegner beseitigen lässt und den Tod von Millionen Menschen in Kauf nimmt. Was mich besonders berührt hat, ist der Bericht einer Zeitzeugin. Sie erzählte von einem chinesischen Ausdruck, der seit der Kulturrevolution existiert: „festsitzende Angst im Herzen“. Er beschreibt diesen nie endenden Schmerz, diese Angst, die bleibt, als wäre das Leben vorbei. Das zeigt, wie tief diese Wunden gehen und wie sie bis heute nachwirken.
Paul Wiederhold: Die intensive Recherche und Arbeit an der Serie hat uns zu Zeitzeug:innen wie Wang Youqin geführt, an deren Schule die erste Schuldirektorin im Rahmen der Kulturrevolution von ihren Schülerinnen ermordet wurde. Ihre Schilderungen hierzu und zur mangelnden Aufarbeitung dieser Verbrechen bis heute waren für mich besonders eindrücklich.
Wie gelingt es Ihnen, solche komplexen und oft schmerzhaften historischen Ereignisse für ein breites Publikum zugänglich und verständlich zu machen?
Annette Baumeister/ Paul Wiederhold: Um komplexe historische Ereignisse einem breiten Publikum nahezubringen, ist eine ausgewogene Mischung aus persönlichen Erfahrungen und fachlicher Expertise entscheidend. Zeitzeugenberichte bilden das emotionale Rückgrat und machen Geschichte greifbar, während Expertenanalysen den notwendigen Kontext liefern. Die Kunst besteht darin, diese Elemente so zu verknüpfen, dass sie sich gegenseitig verstärken. Dadurch entsteht ein vielschichtiges Bild, das beim Publikum eine tiefe Auseinandersetzung mit dem Thema ermöglicht, sowohl auf intellektueller als auch auf empathischer Ebene.
Inwiefern sehen Sie Parallelen zwischen Maos Führungsstil und dem heutigen chinesischen Staatschef Xi Jinping? Haben Sie versucht, diese Parallelen in der Dokumentation zu betonen?
Annette Baumeister/ Paul Wiederhold: Wir haben versucht, die Parallelen herauszuarbeiten, denn Maos Einfluss auf das heutige China ist tatsächlich noch immer allgegenwärtig. Interessant ist, wie die heutige Führung unter Xi Jinping mit Maos Erbe umgeht. Es ist wie ein politischer Werkzeugkasten: Xi bedient sich mal hier, mal da aus Maos Ideenschatz, passt aber vieles auch den aktuellen Gegebenheiten an. Er nutzt zum Beispiel Maos Methoden zur Machtsicherung und den Personenkult, geht aber in der Wirtschaftspolitik ganz andere Wege. Manche sprechen von einem „modernisierten Maoismus“. Die Partei steht nach wie vor über allem, aber die Methoden haben sich verfeinert. Der Umgang mit Andersdenkenden, die Kontrolle über Information und Medien, das Streben nach Stärke – all das wurde an das 21. Jahrhundert angepasst.
Dokumentarfilme basieren stark auf Archivmaterial und Zeitzeugen. Gab es besondere Herausforderungen bei der Beschaffung dieser Materialien, gerade aus der Zeit Maos?
Annette Baumeister/ Paul Wiederhold: Die Arbeit mit Archivmaterial und Zeitzeugenberichten aus der Mao-Ära stellt Dokumentarfilmer vor besondere Herausforderungen. Oft ist das Material falsch datiert oder wurde für Propagandazwecke produziert. Dies erfordert eine akribische Recherche und sorgfältige Überprüfung der Quellen, sowie die enge Zusammenarbeit mit führenden Expert:innen. Entscheidend ist auch, das verwendete Material im Film selbst klar einzuordnen und zu kontextualisieren. Nur so kann dem Publikum ein ausgewogenes und authentisches Bild der historischen Realität vermittelt werden.
Könnten Sie uns einen Einblick in die kreativen Entscheidungen geben, die Sie bei der Strukturierung des Films in drei Teile getroffen haben? Was waren die Beweggründe dafür?
Bei der Strukturierung des Films in drei Teile gab es neben der historischen Relevanz auch dramaturgische Überlegungen. Der vorgegebene Rahmen bot uns die Chance, Maos Leben in sinnvolle Abschnitte zu gliedern. Wir entschieden uns für drei prägende Epochen: Der erste Teil konzentriert sich auf den
Langen Marsch, der Maos Aufstieg zum Führer der kommunistischen Bewegung markiert. Der zweite Teil beleuchtet den
Großen Sprung nach vorne, Maos ambitionierten und folgenschweren Versuch der Industrialisierung. Der dritte Teil widmet sich der
Kulturrevolution, die Maos späte Jahre und sein kompliziertes Erbe charakterisiert. Diese Aufteilung ermöglicht es, die Entwicklung von Maos Persönlichkeit und seiner historischen Rolle – vom Revolutionär über den Staatsführer bis zum umstrittenen Autokraten – differenziert darzustellen.
Wenn Sie Mao Zedong in einem einzigen Satz beschreiben müssten, welcher wäre das?
Annette Baumeister: Mao Zedong war ein charismatischer Revolutionär und skrupelloser Herrscher, der China grundlegend umgestaltete und dabei den Tod von dutzenden Millionen Menschen in Kauf nahm.
Paul Wiederhold: Besonders schlüssig erscheint mir an dieser Stelle ein Zitat unseres Interviewpartners und Fachberaters Prof. Daniel Leese, der Maos Politik als „Exzess und Korrektur“ beschreibt. Für die Modernisierung des Landes stürzte Mao das Land mehrmals ins Chaos und verursachte nach defensiven Schätzungen über 30 Millionen Todesopfer. Seinen rücksichtslosen Kurs korrigierte er in der Regel viel zu spät.
Abseits der politischen und historischen Aspekte: Gibt es etwas, das Sie persönlich von Mao Zedongs Leben und Wirken gelernt haben, das Sie inspiriert oder zum Nachdenken gebracht hat?
Paul Wiederhold: Begriffe wie Inspiration wären angesichts des Leids und der Verbrechen zynisch. Eine Beschäftigung mit Mao ist aber insofern von großer Relevanz, als dass er einer der wirkmächtigsten Figuren des 20. Jahrhunderts ist und Realitäten geschaffen hat, die bis heute die Weltpolitik mitbestimmen.
Annette Baumeister: Was mich zum Nachdenken gebracht hat, ist die Erkenntnis, wie stark die kollektive Erfahrung der Demütigung Chinas durch die Kolonialmächte war. Mao verstand es, diese tiefsitzenden Gefühle der Erniedrigung und des Zorns für seine Zwecke zu nutzen. Noch bedeutsamer finde ich, dass dieses historische Trauma bis heute die chinesische Mentalität prägt. Das Streben danach, nie wieder unterschätzt oder gedemütigt zu werden, scheint ein starker Antrieb für das moderne China zu sein. Dies wird in der heutigen Wahrnehmung von China oft nicht berücksichtigt.
Zum Schluss eine etwas ungewöhnliche Frage: Wenn Sie mit Mao Zedong ein Gespräch führen könnten, welche Frage würden Sie ihm als erstes stellen und warum?
Paul Wiederhold: In einem ersten Impuls würde ich Mao mit seinen Verbrechen konfrontieren. Aber vielleicht wäre meine Frage dann doch: Maos größter Albtraum war die Rückabwicklung seiner kommunistischen Revolution. In seiner Paranoia war er außer Stande, einen Nachfolger aufzubauen. Nach seinem Tod wird mit der Öffnungspolitik Deng Xiaopings sein Albtraum wahr. Heute ist China von einem einzigartigen System geprägt, das turbokapitalistische Züge trägt. Also: Mao Zedong, wie blicken Sie auf diese gegenwärtige Realität und ihr Erbe im Angesicht dieser Realität?
Vielen Dank für Ihre Zeit!
«Mao – Chinas roter Kaiser» ist seit 16. September in der arte Mediathek abrufbar. Die Dokuserie ist am Dienstag, den 17. September, um 20.15 Uhr zu sehen. Das Erste sendet den Film am 30. September um 23.50 Uhr.
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