Als «Aktenzeichen XY» 1967 auf Sendung ging, lieferte Komponist Ernst August Quelle die ersten Spannungsmusiken – seine einprägsamen Stücke schufen einen hohen Wiedererkennungswert und stützten nicht zuletzt den charakteristischen Suspense.
Bevor «Aktenzeichen XY… ungelöst» im Oktober 1967 das Scheinwerferlicht der Fernsehwelt erblicken konnte, hatte Erfinder Eduard Zimmermann nicht nur viele Vorkehrungen in die Wege zu leiten, sondern auch eine Menge Entscheidungen zu treffen. Er wusste, dass er die Sendung zwar präsentieren wird, sie aber unmöglich alleine tragen kann. Viel zu viele Bausteine mussten in einander wirken, die in ihrem Zusammenspiel über den Erfolg oder das Scheitern seiner „Kurz-Krimis mit Nutzwert“ entscheiden würden, die Tatabläufe und Informationen übermitteln, aber auch spannend sein sollten, um die Aufmerksamkeit möglichst vieler Menschen zu binden.
Also galt es, die richtigen Leute für die entsprechenden Aspekte zu akquirieren, was Spürnase Zimmermann in bemerkenswerter Weise meisterte. Ein erster gelungener Schritt war die Installation von Peter Hohl als Hinweiskoordinator, der mit Eloquenz und rhetorischer Gewieftheit punkten konnte. Darüber hinaus wichtig: Die Verpflichtung von Regisseur Kurt Grimm, der seinen artifiziell stilisierten Noir-Vibe in die Fall-Rekonstruktionen einbrachte. Des Weiteren gelang mit der Verpflichtung von Off-Sprecher Wolfgang Grönebaum, der mit seiner tief-volumigen Stimme die Zuhörenden in die Knie zwang, ein wahrer Coup – seine sonore Vertonung dröhnte wohl durch jedes Schlüsselloch.
Durch die Schlüssellöcher der Nation dröhnten aber ebenso die schweren Spannungsmusiken, die die Grusel-Spannung endgültig auf die Spitze trieben – die Kompositionen von Ernst August Quelle prägten das erste Jahrzehnt der Fahndungs-Reihe und wurden für jeden XY-Connaisseur legendär. Sie schufen eine beinah symbiotische Ergänzung zu Zimmermanns Anmoderationen, Grimms Inszenierungs-Stil und Grönebaums Sprechweise. Gekennzeichnet waren sie vom damals gängigen Knackbass, Percussion, eindringlichen Klavier/Orgel-Passagen und kontrastiven Flöten. Nicht zuletzt aber auch von dem innovativen Einsatz des Vibraphons zur Erzeugung elektronischer Klänge, welche den Musiken einen eigentümlich alarmierenden Tenor verleihen.
Geschrieben wurden sie von einem Vollblut-Pianisten, der seine Liebe zur Musik und sein Können am Klavier bereits in jungen Jahren entdeckte. Im zarten Alter von Sechs begann Ernst August Quelle zusammen mit seiner Zwillingsschwester am Klavier zu spielen – eine Musikaffinität die von der Mutter, welche dem Kirchenchor angehörte, ins Haus getragen wurde. Begünstigend kam hinzu, dass im selben Haus eine Gaststätte ansässig war, in der regelmäßig auch Live-Musik gespielt wurde, der der junge Musik-Fan eifrig lauschte. Sein erstes Klavier bekam der kleine Ernst August dann von eben jenem Gastwirt geschenkt, weil dieser sein altes ausrangierte und sich ein neues zulegte.
Mit der tatkräftigen Unterstützung seiner engagierten Klavierlehrerin in seiner Geburtsstadt Herford schaffte es das Klavier-Talent dann tatsächlich bis an die Musikhochschule Detmold, wo logischer Weise der Abschluss im Fach Klavier folgte. Das Pendeln mit dem Moped wurde dem Musikgenie aber bald zu lästig – die bedrückende Enge der ostwestfälischen Provinz überlagerte die Geborgenheit des Elternhauses. Ernst August musste raus in die Großstadt, dort wo das Herz der Musik pulsierte, dort wo die Orchester durch die abendlichen Gassen hallten. Sein Glück fand er schließlich beim renommierten Orchesterleiter Barnabas von Geczy, der ihn in Düsseldorf vorspielen ließ und Ende der fünfziger Jahre für den Chor seines Tanzlokals in München verpflichtete.
Zusammen mit seiner frisch angetrauten Frau Hannelore ging es also nach Bayern, wo der weitere Weg in die Krimisparte des ZDF geebnet wurde. Durch seine Kollegen im Chor lernte Quelle im Laufe der Zeit Musiker kennen, die im Rundfunkorchester spielten und in Geczys Musikstudio Stücke fürs TV komponierten. „Dort war mein Vater auch dabei und hat Leute vom Fernsehen kennengelernt, die er mit seinen Klavierkompositionen auf sich aufmerksam machte“, berichtet Sohn Alexander Quelle. Und weiter: „Im Zuge dessen fragte man ihn, ob er mal ausprobieren will, für den Krimi-Film «Maigret» eine Melodie zu finden“ (das war 1965). „Die Leute, die für Maigret beim ZDF zuständig waren, haben dann auch den Kontakt zu XY hergestellt, was 2 Jahre später anlief“.
Es kam also, wie es kommen musste: 1967 wurde Ernst August Quelle Teil des Teams, das Eduard Zimmermann um sich scharte. Der Komponist begann, die charakteristischen Spannungsmusiken zu schreiben, die die Verfilmungen realer Verbrechen flankierten. „Da lieferte er direkt zu Beginn einen kompakten Block von Musikstücken. Das war so ein Komplettpaket aus zehn Bruchstücken, die dann immer wieder eingebaut wurden“, gibt Alexander Quelle zu Wort. Auch die bläserlastige Titelmelodie des ersten Vorspanns stammte von Quelle. Der Fall war dies bis 1975, als «Aktenzeichen» in die Ära des Farbfernsehens startete und mit Heinz Kiessling auch einen Umbruch auf melodischer Ebene einleitete. Die markanten und hochwertig produzierten Suspense-Musiken von Quelle erwiesen aber ihre Beständigkeit und wurden ab Mitte der Achtziger wieder vermehrt in den XY-Kurzfilmen eingesetzt.
Im Folgenden noch zwei Film-Beispiele, um die Wirkungserzeugung des 'Angruselns' (wie Alexander Quelle es bezeichnet) zu verdeutlichen. Die Szenen können leider nur mit einem Screenshot angedeutet werden, da die Folgen aus rechtlichen Gründen aktuell nicht verfügbar sind:
Bei dem ersten Fall-Beispiel handelt es sich um eine Verbrechens-Rekonstruktion aus dem Jahre 1970, die in der damaligen März-Ausgabe den ersten Filmfall bildete. In Frankfurt ereignete sich einige Zeit zuvor eine mysteriöse Raubmord-Serie, bei der auch ein Ehepaar im Schlaf erschossen wurde. Der behelfsmäßige Wohnsitz der Opfer – ein schlecht gesichertes Gehöft - wird vom Sprecher Wolfgang Grönebaum zunächst akustisch beschrieben und in einer Frontalaufnahme bei Tageslicht noch ohne Musik abgebildet. Dann ein Schnitt, mit dem sofort Quelles Spannungsmusik „Daylight Robbery“ einsetzt (inzwischen ist es Nacht geworden). Im harten Lichtkegel, der im Noir-Stil die Dunkelheit kontrastiert, wird ein Mann sichtbar, der auf das Haus der Eheleute zuschreitet.
Akustisch wird zu Beginn die Orgel unausweichlich, die laut Alexander Quelle ein „Ostinato mit durchlaufenden Grundton“ etabliert – sie öffnet mit gleichbleibendem Volumen einen bedrohlich angespannten Raum, der mit dem von außen kommenden mysteriösen Mann korrespondiert, der in die Schutzzone des Paares hineinschreitet. In diesem (eben auch akustischen) Raum wirkt der wiederholt einsetzende Knackbass wie düstere Schläge, die vom Knackgeräusch des Plektrums zusätzlich unterstützt werden, die das Grundrauschen der Orgel durchschneiden/durchbrechen, ja förmlich ‚sezieren‘. Jene düstere Atmosphäre erhält ihren Kontrapunkt in der hellen Querflöte und im hohen Glockenspiel, die das Heim der Opfer als positiv besetzte Zone formieren, in die die tief düsteren Musikanteile akustisch eindringen – so wie der Täter in die Idylle eindringt (eine häufige Trope in XY). Auch der Quelle-Sohn sieht darin die Etablierung eines Spannungsgefüges, mit der „Erwartung, dass jeder Zeit etwas Unvorhergesehenes passiert“. Oder genauer gesagt, etwas Unvorhersehbares ankündigt, dass den unwissenden Opfern zustoßen wird, was die Zuschauenden hingegen schon ahnen – Der Bestand des Suspense.
Im bekannten Jugoslawien-Express-Fall (1969) erfolgt diese melodische Ankündigung des Unheils mit dem zuerst verlinkten Musik-Titel „Operating in the Shadows“, der mit tiefen schweren Klaviertönen ein erdrückend ernstes Szenario unterspielt, das akustisch Grund zur Sorge gibt. Wieder kontrastieren partiell zarte Flöteneinheiten. Eine akustische Symbolik des herannahenden Mordes wird vorweggenommen und mit den Bildern des fahrenden Zuges parallelisiert, die den atmosphärischen Bezug mit ihm in Verbindung bringen. Alles wohlbemerkt bevor das Verbrechen schließlich eintritt – zum ‚Angruseln‘.
Ernst August Quelle verstarb 2022 im Alter von 90 Jahren – seine Gruselmusiken im übergeordneten Sinne der Fahndung und Aufklärung, aber auch sein vielseitiges Schaffen im Bereich der klassischen Musik (u.a Bayern 3), dem dieser Beitrag hier nicht gerecht werden kann, bleiben in Erinnerung.
11.08.2024 12:30 Uhr
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Mario Thunert
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