«Buchstäblich leben!» ist für Sabine Heinrich ein Herzensprojekt, schließlich können Millionen Menschen in Deutschland nicht richtig lesen. Wie kann man diesen Menschen helfen?
Hallo Frau Heinrich! Vielen Dank für Ihre Zeit. 6,2 Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen. Wie ist das möglich?
Ja, das ist eine Zahl, die mich auch umgeworfen hat und ich habe mich auch gefragt: Wie kann das denn sein? Bei genauerer Betrachtung muss man sogar davon ausgehen, dass es sogar noch viel mehr sind, denn das Thema ist natürlich sehr schambehaftet und die allermeisten sind daher nicht besonders offen damit.
Die Gründe sind ganz unterschiedlich: Viele Frauen und Männer haben schlechte Erfahrungen in der Schule gemacht, sind dort auf der Strecke geblieben und haben leider auch oft keine Unterstützung erfahren, sind in bestimmten Lebensphasen nicht abgeholt worden. LRS, also Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, kann aber auch einen medizinischen Hintergrund haben.
Wie kommen diese Menschen im Alltag zurecht, wenn die grundlegenden Wörter nicht verstanden werden?
Einige kommen erstaunlich gut zurecht und „fummeln“ sich durch den Alltag, so haben sie es uns erzählt. Aber das hat natürlich Grenzen und dann haben die meisten Menschen Strategien entwickelt, wie sie es beim Einkaufen oder beim Bahnfahren schaffen können.
Leider ziehen sich auch viele komplett zurück und nehmen am Leben nicht mehr richtig teil, weil es einfach zu komplex ist. In der Doku lernen wir Tina kennen, die davon träumt, mal alleine mit dem ICE zu fahren, aber sich lange nicht getraut hat, weil sie fürchtete, im hektischen Gewirr des Bahnhofs verloren zu gehen und plötzlich im falschen Zug zu sitzen. Klasse, dass sie das Thema angegangen ist.
In der ZDF-Dokumentation «Buchstäblich leben!», die in der ZDFmediathek angeboten wird, werden Menschen gezeigt, deren Leseverständnis auf Grundschul-Niveau liegt. Wie kann man ohne Lesefähigkeiten die Schule bestehen?
Mittlerweile bekommen Schülerinnen und Schüler mit diagnostizierter LRS einen sogenannten Nachteilsausgleich – Malte aus unserer Doku hat uns immer berichtet, dass er in der Schule viel Unterstützung erfahren habe und so auch den Realschulabschluss machen konnte. Diese Erfahrung haben nicht alle Teilnehmerinnen bzw. Teilnehmer gemacht und die fühlten sich oft sehr allein gelassen. Bernadette hat sich zum Beispiel ein ganzes Schuljahr morgens in der Garage versteckt und ist nicht mehr zur Schule gegangen. Erst am Ende des Schuljahres habe sich die Schule gemeldet. Bei dieser Geschichte schnürt sich noch immer mein Brustkorb zu, wie wahnsinnig allein sie sich gefühlt haben muss – und wieso hat das niemand gemerkt?
Wie können Betroffene Hilfe zum Thema Lesen bekommen? Dieses Interview werden diese Menschen sicherlich nicht lesen und verstehen können.
Richtig. Daher ist das Umfeld wichtig: vorsichtig ansprechen und Unterstützung anbieten. Es gibt natürlich Kurse, aber da müssen die Menschen erstmal hinfinden und den Mut aufbringen, sich dem Problem zu stellen und Vertrauen finden, dass das machbar ist. Es gibt das Alfa-Telefon: 0800 53 33 44 55. Die können erste Fragen beantworten.
Gibt es eigentlich Apps für Smartphones, mit denen Menschen spielerisch das Lesen beigebracht werden kann?
Das weiß ich nicht.
Zwei Millionen Menschen sahen «Buchstäblich leben!» an vier Samstagvorabenden im ZDF. Waren Sie mit dem Ergebnis zufrieden?
Ich persönlich bin mehr als zufrieden und über die Rückmeldungen sehr überwältigt. Es gab viele Menschen, die – wie die meisten von uns – das Problem einfach gar nicht auf dem Schirm hatten. Eine Frau schrieb mir, dass sie ihr eigenes Verhalten nun sehr kritisch betrachten würde. Bislang sei sie durch Rechtschreibfehler anderer immer sehr getriggert gewesen und habe das auch sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, was ihr nun sehr leid täte. Das ganze Team ist für diese vier Folgen viele „Extra-Meilen“ gegangen, weil es uns so am Herzen lag. Wenn wir Menschen durch diese Doku Mut gemacht haben und andere Menschen für dieses Thema sensibilisiert haben, dann haben wir viel geschafft.
Warum wird die Schreibqualität von jungen Menschen derzeit immer schwächer? Lesen junge Menschen zu wenig?
Wieso nur junge Menschen? Die Doku hat gezeigt, dass das Problem alterslos ist. Es gibt ja immer wieder Erhebungen darüber, wie sich die Lesefähigkeiten verschlechtern, aber das fällt nicht in meinen Kompetenzbereich.
Sie moderieren rund zwei bis drei Mal im Jahr «Das große Deutschland-Quiz» im ZDF. Was reizt Sie an Ihrer Quizshow?
Ich liebe Unterhaltung und ich mag viel Licht im Studio – und wenn eine große LED-Wand auf- und wieder zugeht und wenn da was passiert, mit dem wir vorher nicht rechnen können. Beim großen Deutschland-Quiz haben wir schon mehrfach gesehen, dass diese vermeintlich einfachen Fragen aus der Kategorie „muss man doch wissen!“ eben nicht alle wissen und dann? Dann lachen wir zusammen darüber und freuen uns, dass wir es jetzt wissen. Die Fragen haben ja in der Show verschiedene Schwierigkeitsgrade und am Anfang wird noch heiter gelacht und gescherzt und im Laufe des Abends wird es immer ruhiger und spannender: Das ist eine herrliche Dynamik.
Inwieweit hat sich Ihr Magazin «Frau TV», das donnerstags im WDR Fernsehen läuft, in den vergangenen Jahren verändert?
Ja, das ist wirklich erstaunlich. Manche Themen sind dazu gekommen – aber leider sind auch viele Themen geblieben. Gewalt an Frauen in den unterschiedlichsten Formen und auch das Thema Altersarmut unter Frauen und Obdachlosigkeit sind leider geblieben. Wir werden nicht müde darüber zu berichten.
Andere Themen sind geblieben, da hat sich aber die Erzählung geändert. Ich erinnere mich, dass es in meiner allerersten Sendung um die Wechseljahre ging – um dieses Thema ging es zu diesem Zeitpunkt definitiv in keinem anderen deutschen Fernsehformat und auch bei uns sah man im Beitrag eine Frau mit Fächer im Halbschatten – das hat sich mittlerweile gründlich geändert. Da versteckt sich niemand mehr. Gut so.
Vielen Dank für Ihre Zeit!
«Buchstäblich leben!» ist weiterhin in der ZDFmediathek zu sehen.
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