Nur etwa 10 Prozent der Sendezeit in den führenden Nachrichtensendungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz entfallen auf den Globalen Süden, obwohl dort ca. 85 Prozent der Weltbevölkerung lebt.
Die deutsche
«Tagesschau» in der ARD, ihr gleichnamiges Schweizer Pendant im SRF und die österreichische «Zeit im Bild (ZIB) 1» im ORF sind in ihren drei Ursprungsländern unangefochten die jeweils reichweitenstärksten Nachrichtensendungen. Die 15-minütige deutsche «Tagesschau»-Hauptausgabe um 20:00 Uhr hat in der Regel Marktanteile um etwa
40 Prozent, die 20-minütige «Zeit im Bild 1» um 19:30 Uhr um die
60 Prozent,
ebenso die «SRF Tagesschau», die gleichfalls um 19:30 Uhr startet, aber 25 Minuten lang ist. Für zahlreiche Zuschauerinnen und Zuschauern gehören die drei Nachrichtensendungen zu den zentralen Nachrichtenquellen des Tages. Dementsprechend wichtig ist die Frage, über welche geografischen Räume in den Sendungen berichtet wird und insbesondere auch, über welche kaum bzw. gar nicht. Untersuchungen zeigen, dass der Globale Süden in den Nachrichten fast keine Rolle spielt.
Abb. 1 Anzahl der Berichte, in denen die jeweiligen Länder im Jahr 2022 in der deutschen «Tagesschau» erwähnt wurden
Abb. 2 Anzahl der Berichte, in denen die jeweiligen Länder im Jahr 2022 in der österreichischen «Zeit im Bild (ZIB) 1» erwähnt wurden
Abb. 3 Anzahl der Berichte, in denen die jeweiligen Länder im Jahr 2022 in der Schweizer «Tagesschau» erwähnt wurden
Während die Nachrichten 2020 und 2021 von der
Covid-Pandemie beherrscht wurden, dominierten im Jahr 2022 der Ukraine-Krieg und seine Auswirkungen – insbesondere im Energiesektor – das Nachrichtengeschehen. Der Ukraine-Krieg hatte und hat zweifelsfrei höchst weitreichende menschliche, politische und sozioökonomische Auswirkungen in zahlreichen Bereichen. Im Jahr 2022 ereigneten sich allerdings auch eine Reihe von humanitären
Krisen und Katastrophen im Globalen Süden, die nur auf sehr geringes mediales Interesse stießen.
Abb. 4 Beispiele in den Nachrichten ignorierter oder stark vernachlässigter Krisen und Katastrophen im Jahr 2022
In den führenden Nachrichtensendungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz wurde diesen Ereignissen in der Regel nur wenig oder teilweise sogar keine Aufmerksamkeit gewidmet. Die geografische Verteilung der Beiträge zeigt, dass der Globale Norden die Nachrichten und auch die Topthemen dominierte. In der Tat entfielen im Jahr 2022 in der deutschen und Schweizer «Tagesschau» etwa nur 10,8 bzw. 10,5 Prozent der Sendezeit auf den Globalen Süden, in der «Zeit im Bild 1» waren es 8,9 Prozent – bei den Topthemen waren es sogar jeweils nur um die 5 Prozent der Sendezeit.
Abb. 5 Anteil des Globalen Südens, wo etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung lebt, an den Nachrichten in den wichtigsten Nachrichtensendungen in der Schweiz, Österreich und Deutschland (Angaben in Prozent)
Besonders eklatant zeigt sich die Vernachlässigung des Globalen Südens am Beispiel des Bürgerkriegs in Tigray (Äthiopien). Schätzungen zufolge starben in dem Konflikt zwischen der äthiopischen Zentralregierung und Separatisten bis zu 600.000 Menschen. Damit handelt es sich um den tödlichsten Krieg des 21. Jahrhunderts. In den sogenannten Leitmedien wie auch den Hauptnachrichten wurde er aber fast vollständig ausgeklammert.
Während zum Beispiel die «SRF Tagesschau» 2022 in etwa 113.315 Sekunden Sendezeit über den Ukraine-Krieg berichtete, widmete sie dem Krieg in Äthiopien im gesamten Jahr lediglich einen Beitrag mit einer Länge von 150 Sekunden. In der österreichischen «ZIB 1» sah es nicht viel anders aus (40 Sekunden über Tigray), ebenso in der deutschen «Tagesschau» (255 Sekunden), wo in der ersten Jahreshälfte den Sportmeldungen sogar mehr Sendezeit als allen Ländern des Globalen Südens zusammen eingeräumt wurde.
Abb. 6 Sekunden Sendezeit in der Schweizer „Tagesschau“ für ausgewählte Themen im Jahr 2022
Die Vernachlässigung in den Nachrichten gilt auch für die Situation im Jemen, die die Vereinten Nationen als
„weltweit schlimmste humanitäre Krise“ einstufen. Bis Ende 2021 sind in dem Bürgerkrieg zwischen Huthi-Rebellen und der Regierung schätzungsweise über
377.000 Menschen gestorben. Das Land sah sich 2017 mit der
weltweit größten jemals gemessenen Cholera-Epidemie konfrontiert und UNICEF wies darauf hin, dass in dem Konflikt bis Ende 2022
über 11.000 Kinder gestorben oder verletzt worden sind. Etwa Zweidrittel der Bevölkerung, mehr als 23 Millionen Menschen – darunter mehr als die Hälfte Kinder – sind bis heute
auf humanitäre Hilfe angewiesen.
In der Schweizer «Tagesschau» wurde hierüber kein einziges Mal berichtet. Der Jemen wurde zwar kurz exkursorisch in drei Berichten erwähnt, aber mit keinem eigenständigen Beitrag bedacht, der die humanitäre Notlage thematisiert hätte. Auch die österreichische «Zeit im Bild 1» widmete dem Jemen im gesamten Jahr 2022 nur etwa 185 Sekunden, die deutsche «Tagesschau» ca. 360 Sekunden.
Insgesamt gehören die deutsche und Schweizer «Tagesschau» und die österreichische «Zeit im Bild 1» zu der Gruppe der Medien im deutschsprachigen Raum, die nur etwa 10 Prozent ihrer Sendezeit für Nachrichten aus dem Globalen Süden verwenden, obwohl dort mehr als 85 Prozent der Weltbevölkerung lebt. Dabei ist es frappierend ist, wie sehr sich die geografischen Berichtschemata der drei Nachrichtensendungen ähneln.
Abb. 7 Verteilung der Sendezeit in den Hauptnachrichtensendungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz
Dieses Muster der Berichterstattung ist für Ereignisse, die sich im Globalen Süden ereignen, deutlich weniger empfänglich als für Vorkommnisse, die im Globalen Norden stattfinden. Das Interesse an Themen aus geografisch oder kulturell näherstehenden Gebieten ist menschlich und bis zu einem gewissen Grad verständlich. Die Dominanz der Themen des Globalen Nordens ist aber erschütternd erdrückend. Die führenden Nachrichtensendungen müssen sich die Frage stellen lassen, wieso zahlreiche Themen des Globalen Südens so massiv vernachlässigt wurden. Hierzu gehören fundamentale Ereignisse wie die Entwicklungen in Äthiopien und im Jemen, die fast vollständig ausgeblendet wurden.
Das Desinteresse an den beiden Bürgerkriegsländern zeigt sich nicht zuletzt in der Statistik von Sondersendungen. Während die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg in allen drei Ländern von zahlreichen Spezialsendungen begleitet wurden, erschien zur Lage in Tigray und im Jemen keine einzige Sondersendung.
Der Vorrang von Nachrichten aus dem Globalen Norden kann dabei teilweise bizarre Züge annehmen. Zum Beispiel berichtete die Schweizer «Tagesschau» 180 Sekunden lang über die Ohrfeige, die Will Smith auf der Oscarverleihung Chris Rock gab (anschließend folgte ein 145 Sekunden-Beitrag über die Oscar-Ergebnisse). Damit wurde dem Vorfall zwischen den beiden US-Schauspielern mehr Zeit eingeräumt als für den tödlichsten Krieg des 21. Jahrhunderts (Tigray) und der weltweit schlimmsten humanitären Krise (Jemen) zusammen. In ihrem
Jahresrückblick nahm sich die Schweizer Nachrichtensendung dann wieder 65 Sekunden Zeit, um an die Ohrfeige zu erinnern, während die Bürgerkriege in Tigray und im Jemen im Rückblick gar nicht thematisiert wurden.
Den Hauptnachrichtensendungen fällt eine große Verantwortung zu. Sie haben entscheidenden Anteil daran, womit sich Zuschauerinnen und Zuschauer politisch beschäftigen. Die Nachrichten beschreiben nicht nur, worüber diskutiert und nachgedacht wird, sondern bestimmen dies mit und haben damit entscheidenden Einfluss darauf, welche Themen politisch behandelt und möglicherweise auch gelöst werden können. Umso wichtiger ist es, dass der Wert von Nachrichtengeschehen primär nach ihren menschlichen Dimensionen und nicht nach ihrem geografischen Standort beurteilt wird.
Videozusammenfassungen zu den hier vorgestellten Ergebnissen können
hier angesehen werden.
Die Ausgangsstudie „Vergessene Welten und blinde Flecken“, in der unter anderem über 5.000 Ausgaben der deutschen «Tagesschau» ausgewertet wurden, sowie verschiedene Ergänzungsanalysen zu deutschsprachigen Medien, können kostenlos eingesehen, beziehungsweise heruntergeladen werden unter www.ivr-heidelberg.de
Auf der Seite finden sich unter anderem auch eine Unterschriftenpetition sowie Informationen zu einer auf den Untersuchungen beruhenden Wanderausstellung.
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