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«Ostfriesenwut»: Kann man die Toten nicht ruhen lassen?

Ein Anschlag auf einen Zeitungsredakteur offenbart sich nur als Prolog zu einem viel größerem Verbrechen. Erpresser drohen, das Trinkwasser Ostfrieslands zu vergiften. Das ist natürlich ein Fall für die großen Jungs vom BKA. Für die Kommissarin Ann Kathrin bleibt nur eine Tote im Meer.

Ostfriesenwut

  • REGIE: Christine Repond
  • DREHBUCH: Christian Limmer
  • KAMERA: Doro Götz
  • MUSIK: Roman Fleischer , Tim Schwerdter
  • BESETZUNG: Picco von Groote, Christian Erdmann, Barnaby Metschurat, Kai Maertens, Marie Schöneburg, Andreas Euler, Christian Ahlers, Charlotte Crome
Dass beide Fälle miteinander zu tun haben, überrascht natürlich niemanden. Dies ist ein Kriminalfilm, in dessen Mittelpunkt eine Kommissarin steht, die sich kaum die Butter vom Brot oder den Anschlag vom Fahndungsplan nehmen lässt. Seien wir nur froh, dass dies eine Fiktion ist, denn eine Kommissarin wie Ann Kathrin wäre in der Realität eine Gefahr für die Allgemeinheit, die öffentliche Ordnung, die Gesundheit der Bevölkerung.

Der ZDF-Krimi ist noch keine sieben Minuten alt, da steht die Entscheidung fest: diesen Film weiter zu verfolgen, ist verschwendete Lebenszeit.

Um eines einmal klar zu sagen: Wir Rezensenten sind Sesselfurzer. Wir sitzen in unseren gemütlichen Ohrensesseln im Warmen, machen uns unsere Notizen, zwischendurch naschen wir leckeren Süßkram und am Ende bewerten wir die kreative Arbeit von Menschen, die Monate, ja oftmals Jahre an einem Projekt gearbeitet haben. Fällt die Kritik negativ aus, treten wir in Minuten die Arbeit von Jahren zusammen. Es hat Gründe, warum unser Ruf eher zwiespältig ausfällt.

Wenn man sich also entschließt, einen solch derben Verriss wie diesen zu schreiben, braucht es dafür einen wirklich triftigen Grund, den es ausführlich zu erklären gilt. Also beginnen wir mir der Szenerie, in die die Protagonistin Ann Kathrin und ihr Kollege und Mann Frank Weller geraten.

Auf die Redaktion der örtlichen Zeitung ist also ein Anschlag verübt worden. In welcher Art, weiß Ann Kathrin nicht (wir, die Zuschauer, wissen es, wir haben es nämlich gesehen: Der Redakteur hat einen Umschlag geöffnet und etwas Weißes ist herausgerieselt!). Ann Kathrin und Weller werden zum Tatort gerufen. Wie sieht die Lage vor Ort aus?

Sie sehen, wie der Redakteur beatmet auf einer Liege aus dem Gebäude gefahren wird – begleitet von Sanitätern in Schutzanzügen, die man normalerweise nur in Zombie-Apokalypsefilmen zu sehen bekommt. Mit anderen Worten: Da hat jemand nicht nur Mehl verschickt, das Zeug, das aus dem Umschlag träufelte, ist offenbar nicht ganz ungefährlich.
Ann Kathrin bekommt von ihrer Vorgesetzten Diekmann die Order, dass niemand das Haus betreten darf, bis Spezialisten vom BKA da sind. Die Vorgesetzt geht an ihr vorbei, was sagt Ann Kathrin nun?

A: Dann sichern wir das Gebäude mal ab, damit kein Trottel auf die vollkommen bekloppte Idee kommt mal zu gucken, was da los ist!
B: Wir gehen rein!

Das war eine rhetorische Frage, denn natürlich will sie ins Gebäude. Wer möchte nicht einmal eine Nase von einer Substanz nehmen, die weiß ist und funkelt. Koks, Waschmittel, Biokampfstoff? Egal, das Zeug wird schon schön knallen.

Ann Kathrin wird allerdings von der Vorgesetzten zurückgepfiffen (denn merke: In Nähe von ranghöheren Diensthabenden deren Anweisungen offen zu widersprechen, ist selten eine gute Idee). Da die Dame den Tatort aber verlässt (warum auch immer, vielleicht hat sie einen Friseurtermin, der wichtig ist, die erwartete Ankunft von Spezialisten vom BKA und ein möglicher Anschlag sind es auf jeden Fall nicht), bekommt Ann Kathrin die Möglichkeit, eben doch ins Redaktionshaus zu gehen – wobei sie ihre Atemwege mit einer FFP2-Maske sichert (von der wir aber nicht erfahren, ob sie wenigstens noch eingeschweißt war – oder ob es sich um eine durchgesabberte Maske aus Lockdown-Zeiten handelt, von denen Millionen in deutschen Winterjacken schlummern und neue Virenkulturen erzeugen).
So geht Ann Kathrin also in die Redaktion, findet auf dem Schreibtisch des Redakteurs ein Erpresserschreiben – und ein bisschen weißes Pulver, von dem sie sich (behandschuht) eine kleine Probe abzweigt und immerhin in ein verschließbares Plastiktütchen schiebt.

Um dies noch einmal zusammenzufassen: In luftdichten Schutzanzügen vermumte Sanitäter bergen einen mit einer offenbar hochgiftigen Substanz in Berührung gekommenen Zeitungsredakteur aus seiner Redaktion; wir sehen den Mann auf seiner Bahre und erkennen: gut geht es dem erst einmal nicht. Und die Protagonistin dieses Kriminalfilmes geht in ihren Alltagsklamotten in die Redaktion, um sich eine Prise des Pulvers einzuverleiben, die diesen Mann gerade ganz offensichtlich recht derbe aus den Gesundheitslatschen gekickt hat.

Kriminalfilme sind Fantasien. Schon die Arbeit der ermittelnden TV-Kommissare ist auf die Realität bezogen Kikifatz. Wird ein Mensch ermordet, werden in der Realität Sonderkommissionen gebildet; da ist Teamarbeit oberste Priorität, da geht jedes Mitglied seiner Aufgabe nach, und so weiter. In solchen Ermittlungen werden Indizien über Indizien gesammelt, allein deren Archivierung ist episch und dauert ewig. So etwas lässt sich in einem Film kaum darstellen – ohne das Publikum irgendwann sanft einschlummern zu lassen, denn Action oder gar irritierende Wendungen gibt es da selten. Also entwerfen Kriminalfilm-Autorinnen- und Autoren Welten, die sich an der Realität orientieren, die aber eben nicht der Realität entsprechen. Das bedeutet: Sie dampfen zum Beispiel die Anzahl der handelnden Ermittler auf zwei, drei Figuren zusammen. Sie vereinfachen reale Ermittlungsvorgänge, um aus der Kompensation heraus Tempo zu erzeugen. Sie lassen Wendungen einfließen, die diese Spannung aufrecht erhalten sollen. Sie lassen persönliche Schicksale in die Story einfließen. Der Anspruch, der für sie gilt, lautet nicht, die Realität darzustellen. Das können sie gar nicht und das will auch niemand. Der Anspruch, dem sie verpflichtet sind, lautet vielmehr eine Welt zu erschaffen, die in sich plausibel ist. Das Handeln der Figuren muss nachvollziehbar sein und in der Handlungswelt einen Sinn ergeben.
Was wir erleben? Eine Kommissarin, die auf eigene Faust in die Redaktion geht und von einem Pülverchen Proben nimmt. Ein Pülverchen, von dem wir schon wissen, dass es übel ist – und das uns die Handlung als echt böses Zeug im Verlauf der weiteren Handlung verkaufen wird, das halb Ostfriesland vergiften könnte.

Die Handlung dieser Protagonistin ergibt in keiner Welt, ob real oder fiktiv, einen Sinn. Schon gar nicht, wenn die Realität als Orientierungshilfe dient.

Nun machen Kreative Fehler. Das ist okay. Wir sind Menschen. Und wer oft Monate an einer Geschichte arbeitet, sieht den weißen Elefanten irgendwann nicht mehr im Raum. Das passiert. Aus diesem Grund gibt es Lektoren, Korrektoren, Redakteure. Menschen, die noch einmal eine Geschichte auf Herz und Nieren prüfen, um etwaige Ungereimtheiten auszumerzen oder einfach mal Fragen zu stellen wie: „Macht es Sinn, dass Ann Kathrin in diesem Szenario die Redaktion aufsucht?“ Ein beliebtes Stilmittel, doofes Handeln von Charakteren zu entschuldigen, ist die emotionale Notlage. Das eigene Kind – vergiftet? Da drehen sämtliche Sicherungen frei. Allein ist dies hier nicht der Fall. Ein (immerhin) Bekannter der Protagonistin ist Opfer eines Anschlages geworden. Das ist nicht schön. Aber auch kein Grund dafür, ein derart saudämliches Handeln der Hauptfigur zu entschuldigen. Es gibt keinen plausiblen Grund dafür, dass sie handelt, wie sie handelt. Verantwortungslos, dumm, bescheuert, von allen guten Geistern verlassen, selbstbesoffen.

Das bedeutet leider auch, dass auf dem Weg vom Autorenschreibtisch bis in den Endschnitt hinein sämtliche Kontrollmechanismen gepennt haben. Oder dass es jenen, die es vielleicht hätten erkennen können, egal gewesen ist. Getreu dem Motto: das versendet sich eh.

Die weitere Handlung ist im Grunde genommen egal, denn warum sollte man als Zuschauer, als Zuschauerin eine emotionale Bindung zu einer Figur aufbauen, die derart einen an der Dachlatte kleben hat wie Ann Kathrin? Dass dann auch noch die alte Geschichte um ihren Vater ausgebuddelt wird… Zur Erinnerung: Die Hauptfigur dieser Spielfilmreihe litt über viele Episoden darunter, dass ihr Vater, ebenfalls ein Polizist, erschossen worden ist und der Fall nie aufgeklärt werden konnte. Eine Besonderheit der Reihe stellten denn auch Ann Kathrins Gespräche mit ihrem Vater dar. Imaginäre Gespräche, die für sie jedoch real wirkten. Irgendwann ist der Mord aufgeklärt worden und die Geister der Vergangenheit fanden ihre Ruhe. An sich ein schöner Moment, doch zack: Hey, vielleicht gibt es ja doch noch…

In Gottes Namen: kann man die Toten nicht irgendwann einfach ruhen lassen?
Übrigens: Ann Kathrins neue Chefin hält irgendwann Ann Kathrin für eine Quartalsirre (es wird netter formuliert, sie trifft aber den Punkt). Und für einen Moment kommt der Verdacht auf – Moment, sollte Ann Kathrins saudämliche Handeln etwa thematisiert werden? War ihr Handeln vielleicht dumm wie ein Meter Waldweg – und jetzt geht es genau darum? Wird genau dieses Handeln hinterfragt und als das dargestellt, was es (gewesen) ist?

Das hätte interessant werden können.
Wird es aber nicht.
Was bleibt, ist Fassungslosigkeit.

Am Samstag, 30. Dezember 2023, um 20.15 Uhr im ZDF
29.12.2023 11:49 Uhr Kurz-URL: qmde.de/147837
Christian Lukas

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