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Dr. Veronika Schreiegg: ‚Diese breite Streuung ist uns wichtig‘

Nicht nur die Vielfalt der Genres soll bedient werden, sondern auch die Diversität der Mitarbeiter, die nach Musik suchen, ist wichtig.

Sehr geehrte Frau Dr. Veronika Schreiegg, vielen Dank, dass Sie sich Zeit für unser Gespräch nehmen. Die Sender des Deutschlandfunks sind auf Wortinhalte spezialisiert. Wie wertvoll ist die Musik in Ihrem Programm?
In unseren drei Programmen hat die Musik unterschiedliche Funktionen. Bei Deutschlandfunk Nova spielt die Musik sogar eine sehr prägnante Rolle, denn 60 Prozent des Programms wird dort von der Musikredaktion bespielt. Auch bei Deutschlandfunk Kultur besteht das Programm aus 40 Prozent Musikanteil. Bei beiden Programmen haben wir den Anspruch, jede Woche neue Musiktitel anzubieten – ausgewählt von erfahrenen Musikplanerinnen und immer auch etwas abseits dessen, was man in den gängigen Formatradios findet. Da Musik ein immanenter Bestandteil von Kultur ist, legen wir im Deutschlandfunk Kultur sehr viel Wert darauf, dass wir über die Musikerinnen und Bands, die wir spielen, auch erzählen. Mit unserer Musikauswahl wollen wir inspirieren und einen Blick in die Musikszenen anderer Länder geben. Es passiert gar nicht so selten, dass mir Hörerinnen schreiben, die sich über unsere Musik freuen. Das zeigt mir, dass unsere Musik manchen wertvoller ist als man vielleicht vermuten mag. Was den Deutschlandfunk betrifft: Hier liegt der Fokus vieler Sendungen in der Tat auf den Wortinhalten. Dennoch machen wir uns auch dabei über die Instrumentals zwischen zwei Wortbeiträgen Gedanken. Ein Instrumental mit der falschen klanglichen Anmutung würde unangenehm auffallen. Nicht jedes Instrumental, das sich gut in den Wortkontext von „Tag für Tag“ fügt, passt auch in die „Informationen am Morgen“.

Gibt es eine bestimmte Rotation, in denen die Musik für die einzelnen Sender – auch eventuell nach Jahreszeiten – ausgespielt werden?
Auch hier ist der Umgang unterschiedlich. Deutschlandfunk Nova hat eine höhere Rotation neuer Musiktitel, weil dort überwiegend neue Titel im Fokus stehen, die dann aber auch nicht zwingend ewig gespielt werden. Deutschlandfunk Kultur spielt zwar neue Musiktitel auch etwas häufiger, aber fernab von einer Häufigkeit wie man sie von Chartradios kennt. Dafür gibt es einfach zu viel gute Musik, die wöchentlich nachkommt. Außerdem spielen wir im Deutschlandfunk Kultur auch ab und zu „Klassiker“, die wir einfach nicht missen wollen. Unsere Hörerinnen sind keine geschichtslosen Wesen. Über einen The Smith-oder The National-Song, der in individuellen Biografien oder Hörerfahrungswelten eine Rolle gespielt haben mag, freuen sich unsere Hörer. Diese Songs zu spielen ist uns wichtig, deshalb bleibt innerhalb einer Sendestunde gar nicht so viel Platz für Hot-Rotations.

Eine Jahreszeitenrotation haben wir bei Deutschlandfunk Kultur lediglich im Advent. In dieser Zeit setzen wir ein paar mehr besinnlich anmutende Titel ein als sonst. Das scheint uns angemessener als die übliche Kaufhaus-Adventsmusik.

Da ich selbst Hörer eines Ihrer Programme bin, gibt es oftmals Titel, die ich öfters wahrnehme, die aber dann wieder verschwinden.
Nach zirka zwölf Wochen wechselt ein neuer Song ins normale Repertoire. Ab dann konkurriert er mit all unseren anderen Titeln und kommt entsprechend seltener im Tagesprogramm vor.

Unterscheiden Sie sich bei der Musik gegenüber den Format-Radios? Gibt es daher auch Titel, die Sie nicht in die Playlist aufnehmen?
Wir schauen wenig auf andere Programme. Für uns muss ein Titel stimmig sein und zu uns passen. Es gibt einige Songs, die in der Tat sehr kompatibel sind für diverse Formate. Die Stranglers mit „Golden Brown“ oder Seeed mit „Hale-Bopp“ zum Beispiel. Das sind Songs, die finden Sie überall – in AC-Formaten, Jugendformaten, Chartradios, aber auch bei uns. Andererseits: Viele Songs, die in anderen Formatradios gespielt werden, passen einfach nicht zu uns. Das machen wir dann aber an klanglichen Parametern fest und nicht so sehr daran, ob ein anderes Programm den Titel spielt oder nicht.

Wer sucht bei Ihnen im Haus die Musik aus?
Wir haben für jedes Programm ein Team von Musikplaner*innen. Deutschlandfunk Nova hat ein junges Team, das überwiegend für junge Hörerinnen und Hörer Songs auswählt. Im Deutschlandfunk Kultur und im Deutschlandfunk ist das Team etwas breiter aufgestellt. Die jüngste Musikredakteurin ist 29 Jahre alt, der älteste Mitarbeiter 60 Jahre alt. Diese breite Streuung ist uns wichtig, weil wir so auf verschiedene Hörerfahrungen zurückgreifen können und es wichtig ist, gegenseitig Höreindrücke aus diesen unterschiedlichen Lebenswelten heraus zu spiegeln.

Können Sie mir verraten, wie Sie beispielsweise an die in Ibiza und Antigua aufgewachsene Sängerin Au/Ra gelangt sind? Sind in diesem Fall auch die Plattenlabels sehr aktiv oder müssen Ihre Kollegen auf Spurensuche gehen?
Au/Ra ist ein klassischer Fall von eigener Recherche. Leider haben Musikerinnen wie Au/Ra keinen „Vertrieb“, der an uns Musikplanerinnen und Musikplaner in Deutschland herantritt und uns die neuen Songs von Au/Ra auf den Schreibtisch legt. Bands aus unseren europäischen Nachbarländern sind auch kaum im digitalen Vertriebssystem MPN (Music Promotion Network) vertreten. Aus deren Logik nachvollziehbar, weil eine Musikerin wie Au/Ra kaum in AC oder Jugendformaten gespielt werden würde. Für den Promoter von Au/Ra würde sich der Aufwand nicht lohnen. Deshalb machen wir uns in der Tat proaktiv auf den Weg, um solche Musikerinnen und Musiker aufzuspüren.

Beim werktäglichen Musikmagazin «Tonart» führen verschiedene Moderatoren durch die Sendung. Haben die Moderatoren die Möglichkeit, selbst Einfluss auf das Programm zu nehmen?
Nein, Musikplanung im Tagesprogramm ist eine andere Profession als die eines Radio-DJs. Viele der Kolleginnen und Kollegen am Mikro in der Tonart moderieren nachts Sendungen, in denen Sie selbst die Musik auswählen. Meistens ist das dann aber Musik eines Genres, für das ein gesondertes Expertenwissen gefragt ist und das (musikjournalistisches) Knowhow über ein ganz bestimmtes Genre erfordert. Die Musik im Tagesprogramm wird nach anderen Prämissen ausgewählt. Zwar suchen auch Musikplanerinnen nach neuen Songs und Inspiration für unsere Hörer*innen, sie haben aber die Klangmarke des Programms und die Funktionalität unserer Musik stärker im Fokus.

Sie arbeiten auch mit Spotify zusammen und bieten dort kuratierte Playlisten an. Hat sich das Projekt positiv auf Ihre Hörerschaft ausgewirkt?
Unsere Playlisten auf Spotify erfreuen sich großer Beliebtheit. Die „Deutschlandfunk recommends“-Playlist hat über 30.000 Follower. Im Vergleich zu anderen Kulturprogrammen ist das ein sehr guter Schnitt. Auch die Deutschlandfunk Nova-Playlist mit über 15.000 Follower wird gerne gehört. Wir dürfen uns heutzutage nicht mehr die Frage stellen „Entweder oder“, sondern müssen überall dorthin gehen, wo unsere Hörerinnen und User unterwegs sind. Streamingdienste sind für uns eine wichtige Drittplattform, auf denen sich unser Publikum genauso aufhält wie in unseren linearen Programmen.

Haben Sie eigentlich auch Songs oder Genres, die Sie nicht spielen können?
Wir haben uns im Tagesprogramm gegen eine allzu heterogene Musikauswahl entschieden. Wir wissen, dass wir mit Klassik ein völlig anderes Publikum ansprechen als mit Popmusik. Mehr noch, ein Konzertgänger, der gerne ins Konzerthaus geht, hört nicht zwingend gerne Klassik am Morgen, eingepresst zwischen zwei politischen Interviews. Ähnlich verhält es sich mit dem Jazz. Wir wissen auch, dass viele unserer Hörerinnen und Hörer sogar bei Klassik und Jazz abschalten – wohlgemerkt: im Tagesprogramm. In den Abendstrecken ab 20 Uhr oder besonders in unserer Audiothek-App sieht das völlig anders aus. Sobald eine Hörerin selbst den Zeitpunkt bestimmen darf, an dem sie sich auf ein Konzert einlassen mag, sprich, wenn die individuelle Hörsituation stimmt, dann werden unsere Konzerte auch gut abgefragt. Für die Tagesbegleitung halten wir Popmusik mit den Ausprägungen Singer/Songwriter, Soul oder Popmusik aus unseren Nachbarländern für stimmiger.

Wie stehen Sie grundsätzlich zum Thema Michael Jackson und R. Kelly. Kann man hier den Künstler von der Musik trennen oder haben Sie die Musik aufgrund von Beschwerden aus dem Programm genommen?
Wir trennen in der Regel den Künstler vom Werk, entscheiden das aber von Fall zu Fall aufs Neue. Wenn etwa Morrissey zum Erscheinen seines neuen Albums von einer Talkshow zur nächsten zieht und durch rassistische Aussagen Aufmerksamkeit für sein Album zu generieren versucht, dann erlauben wir uns auch mal, mit unserem Programm keine Werbeplattform für das neue Album zu bieten. Bei den Songs von Michael Jackson, die weit in der Vergangenheit produziert wurden und bereits durch völlig andere individuelle Kontexte in den Popkanon und individuelle Lebenswelten eingegangene sind, sieht das anders aus. Würden wir Michael Jackson spielen, hätten wir ihn sicherlich im Programm belassen.

Vielen Dank für Ihre Worte!
17.04.2023 12:08 Uhr Kurz-URL: qmde.de/141544
Fabian Riedner

super
schade


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Tags

Tonart

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