In diesem Jahr wird ein trauriges Jubiläum gefeiert: Seit 20 Jahren sind Menschen wegen ihres Körpers im Fernsehen zu sehen.
John de Mol Jr. konnte sich sicher nicht vorstellen, dass er in den 90er Jahren eine Fernsehsendung kreieren würde, die ein solches Revival erleben würde. Reality-TV gab es zwar schon immer, doch handelte es sich dabei meist um Dokumentarserien, die nach einer bestimmten Drehzeit zusammengeschnitten und als Dokumentation ausgestrahlt wurden. Mit dem Format «Big Brother», das erstmals am 16. September 1999 auf Veronica ausgestrahlt wurde, änderte sich jedoch die gesamte Dramaturgie. Die Teilnehmer der niederländischen Version sorgten für fantastische Einschaltquoten, so dass das Format bald in andere Länder expandierte.
Für die deutsche Adaption war zunächst ProSieben vorgesehen, doch die Verantwortlichen verzichteten schließlich auf die Lizenz und ließen RTLZWEI den Vortritt. Der experimentierfreudige Sender aus Grünwald sorgte für über vier Millionen Zuschauer – Tag für Tag. Das Format, damals moderiert von Percy Hoeven, war ein Riesenerfolg. Die Einschaltquoten schossen so in die Höhe, dass auch die Staffeln zwei und drei von RTL begleitet wurden.
Zahlreiche Ideen wurden weltweit gepitcht, wie man das Format auf ein neues Level heben könnte. Doch vielen Verantwortlichen war klar, dass man de Mols TV-Show nicht einfach kopieren konnte. Ein anderer Dreh musste her, und so blickten die CBS-Verantwortlichen nach Schweden. Dort fand man mit «Expedition Robinson» ein ähnliches Format, das allerdings nicht live ausgestrahlt wurde. Bis heute wurden in den USA unter dem Titel «Survivor» über 40 Staffeln ausgestrahlt. Der kleine Bruder von CBS, UPN, gab mit Tyra Banks den endgültigen Startschuss für „Body-Shaming-TV“.
«America’s Next Topmodel» lockte fast sieben Millionen Zuschauer auf den Fernsehsender, der zu diesem Zeitpunkt vorwiegend People of Color ansprach und mit diesem Unterfangen wenig Erfolg hatte. Doch die Reality-Show, die später zu The CW wechselte, wurde ein Riesenerfolg. Bis 2007 wurden sieben Staffeln produziert und mit dem Wechsel zum fusionierten Sender konnte der Quotenrückgang gestoppt werden.
In Deutschland adaptierte ProSieben das Format und nahm Heidi Klum unter Vertrag. Seit Mittwoch, dem 25. Januar 2006, führt das in Bergisch Gladbach geborene Model junge Mädchen an der Nase herum. Jedes Jahr werden zahlreiche junge Frauen mit dem Profi-Vertrag gelockt, ohne zu wissen, dass sie für eine unterhaltsame Show herhalten müssen. Sieben Jahre lang produzierte dies Tresor TV, dann übernahm RedSeven die Produktion. Die ProSiebenSat.1-Tochter verlor 2022 einen Prozess, der es in sich hatte. Teilnehmer und Nichtteilnehmer dürfen das, was ProSieben am Donnerstagabend sendet, inzwischen Scripted-Reality oder ähnliches nennen.
Tyra Banks kehrte 2018 für eine finale Staffel zurück, aber «America’s Next Topmodel» konnte bei VH1 nicht an frühere Glanzzeiten anknüpfen. Das ist auch gut so, denn das dort gezeigte Frauenbild fördert bei vielen jungen Mädchen kein positives Selbstwertgefühl. ProSieben gehört mit seinem deutschen Ableger zu den wenigen Sendern, die noch auf Sendung sind. In England hat Lifetime die Serie 2017 eingestellt. Andere europäische Nachbarländer wie Italien, Österreich, Dänemark, Belgien, Frankreich und die Schweiz haben die Serie schon vor längerer Zeit beerdigt. Nur die Niederländer, Polen, Mongolen, Indonesier, Griechen und Finnen sind noch auf der Suche nach Model-Frauen.
Ben Silverman, Mark Koops, Dave Broome und J.D. Roth gingen mit ihrer Reality-Show noch einen Schritt weiter: In «The Biggest Loser» traten zahlreiche Kandidaten gegeneinander an, um abzunehmen. Wer am Ende der Staffel die meisten Kilos verloren hatte, erhielt einen für Laien recht hohen Geldpreis. Die wenigsten Kandidaten wurden jedoch während und nach der Sendung betreut. Die Show von Banijay konzentriert sich auf den schnellen Erfolg. Aus diesem Grund werden die wenigsten Kandidaten auch in späteren Staffeln umsorgt.
Auch diese Art des Fernsehens ist auf dem Rückzug. Während in Deutschland noch fleißig für Sat.1 gedreht wird, sind die USA seit zwei Jahren raus. Auch in Großbritannien, Spanien, Südafrika, Russland und Australien hat das Format keine Zukunft mehr. Stattdessen hat sich auch in diesen Ländern ein deutlich freundlicheres Reality-TV entwickelt, wie man es auch in Deutschland mit Formaten wie «Das perfekte Dinner» oder anderen Reality-Shows kennt.
Ein eher abschreckendes Beispiel war vor 19 Jahren die US-Produktion «The Swan», bei der jegliche gute Geschmack auf der Strecke blieb. In jeder Folge ließ der amerikanische Fernsehsender FOX von der Produktionsfirma FremantleMedia North America zwei hässliche Entlein agieren. „US Today" nannte die Sendung "abstoßend" und zählte sie zu den schlimmsten Reality-Shows aller Zeiten. Die „New York Post“ interviewte vor sieben Jahren zwei ehemalige Kandidatinnen, die trotz der Teilnahme an der Fernsehshow und den damit verbundenen Operationen weiterhin unter ihren psychischen Problemen litten.
Die sehr schlechte Presse in den USA hielt ProSieben nicht davon ab, die Sendung für das deutsche Publikum zu adaptieren. Nach einer Premiere am Dienstagabend, bei der das Format floppte, wurde die Sendung im November und Dezember 2004 auf den späten Dienstagabend verlegt. Das deutsche «The Swan» wurde von Verona Pooth moderiert, was letztlich auch zu guten Quoten führte. Hätte ProSieben aber nicht mit «Die Burg» Schiffbruch erlitten und wären «Desperate Housewives» und «Lost» angekündigt gewesen, hätte der damalige ProSieben-Chef Dejan Jocic vielleicht noch einmal auf diese respektlose Sendung gesetzt.
Das Fernsehverhalten hat sich in den letzten Jahren grundlegend verändert. Die Gesellschaft findet Witze über dicke Menschen nicht mehr lustig, das mussten auch Sender wie RTL spüren, der mit «Schwiegertochter gesucht!» nicht nur Schwergewichte im Programm hatte, sondern auch Menschen, die nicht einschätzen konnten, was sie vor der Kamera wirklich taten. Der Zuschauer suchte das Weite, was durch Streaming-Dienste wie Netflix noch an Fahrt gewonnen hat. Der nächste Grund zum Feiern wäre die Absetzung von «Germany’s Next Topmodel».
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